Auf dem Boden der kleinen Wohnung in Zürich-Wollishofen stapeln sich Umzugskartons. Auf dem Esstisch liegt ein Fotoalbum neben einer offenen Flasche Portwein. Karolina Pinheiro hat Tränen in den Augen.
In diesen vier Wänden ist die 28-Jährige aufgewachsen, hier lebten ihre Eltern, 30 Jahre lang. Bald wird jemand anderes einziehen – und Familie Pinheiro in der alten Heimat einen Neuanfang wagen. Die drei verlassen die Schweiz.
Sie gehen zurück nach Portugal.
Die Sehnsucht hat gesiegt
Es ist der umgekehrte Weg, wie ihn ihre Mutter und ihr Vater vor drei Jahrzehnten gegangen sind. Damals nahmen sie das Auto, heute ist es ein One-Way-Flugticket. Ihr Leben in der Schweiz wird, fein säuberlich verpackt, per LKW nachgeliefert.
«Saudade», die Sehnsucht nach ihrem Heimatland, hat gesiegt. Auch der Wein von dort konnte nicht darüber hinwegtrösten: «Wir sind in die Schweiz gekommen, um zu arbeiten. Jetzt möchten wir unseren Lebensabend mit unserer Familie geniessen», sagt Maria Pinheiro. Ihr Mann Mario arbeitet am Empfang des portugiesischen Konsulats. Um mehr zu verdienen, schiebt er abends zusätzlich bei einer Sicherheitsfirma Wache. Nun steht er kurz vor der Frühpension.
In der Schweiz lebten die Pinheiros bescheiden. «Restaurantbesuche? Das kostet zu viel.» Jeder gesparte Rappen floss in die Renovation ihres Hauses in Vale do Barco, eine Autostunde nördlich von Lissabon.
10'000 Portugiesen verliessen 2020 die Schweiz
«Schauen Sie, endlich werden wir in unser eigenes Haus einziehen!», sagt Mario Pinheiro und tippt begeistert auf ein Foto. Karolina hat vor zwei Wochen ihren Job als Arztsekretärin gekündigt. «Nachdem dieses Jahr mein Opa starb, wollte ich nicht mehr weit von meiner Familie entfernt leben – insbesondere weil die Pandemie gezeigt hat, dass Landesgrenzen schliessen können.»
Jahrzehntelang galt die Schweiz als klassisches Einwanderungsland für arbeitsuchende Portugiesen. Zu zwei Dritteln siedelten sie in der Romandie. Inzwischen entscheiden sie sich wie die Pinheiros immer häufiger für die Rückkehr.
Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: 2020 verliessen 10'000 Menschen die Schweiz in Richtung Portugal. Gleichzeitig war die Einwanderungsquote letztes Jahr so tief wie seit Anfang der 2000er-Jahre nicht mehr. Ende letzten Jahres lebten noch 257 '700 portugiesische Staatsangehörige hier, da nahm ihre Anzahl bereits im vierten Jahr in Folge ab. Die Anziehungskraft Portugals hat zugenommen – schon bevor es einen Spitzenplatz bei den Covid-Impfungen einnahm.
Keine einheitliche Gruppe
Nach einem Aufruf von SonntagsBlick erhielt die Redaktion Zuschriften von vielen Dutzend Portugiesen, die planen, wieder in die alte Heimat zu gehen.
«Sie sind keine einheitliche Gruppe», sagt Liliana Azevedo. Die 44-jährige Schweiz-Portugiesin widmet dieser Entwicklung ihre Doktorarbeit am ISCTE-IUL, dem Universitätsinstitut von Lissabon. Die Rückkehrer liessen sich in drei Kategorien aufteilen. Ein grosser Teil wanderte in den Achtziger- und zu Beginn der Neunzigerjahre aus. Heute sind viele von ihnen im Ruhestand oder nähern sich dem Pensionsalter. Eine zweite Gruppe verliess Portugal nach 2008, während der Wirtschaftskrise. Viele dieser Menschen fühlen sich ihrem Einwanderungsland noch immer kaum verbunden. Die dritte Kategorie gehört zur jüngeren Generation, die in der Schweiz geboren ist.
«Jede dieser Gruppen hat andere Beweggründe für die Rückkehr», sagt Azevedo. Für viele heutige Rentner war die Rückkehr stets Teil des Migrationsprojekts. Sie kauften in der Heimat eine Wohnung oder bauten ein Haus, teils eigenhändig und während der alljährlichen Sommerferien. «Sie vermissen die Geselligkeit, die Sonne und das Meer.»
Rente reicht in der Schweiz nicht
Neben dem Heimweh spielten aber auch pragmatische Erwägungen eine Rolle: «Die Ältesten sind unter der Salazar-Diktatur aufgewachsen, haben meist nur die Primarschule besucht. In der Schweiz arbeiteten sie hauptsächlich im Baugewerbe, in der Gastronomie, Hotellerie oder Reinigung, verdienten meist niedrige Löhne und erhalten daher oft eine sehr kleine Rente.»
Vor der Pensionierung stellten sie dann häufig fest: Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Azevedo: «In der Schweiz hätten sie damit ein Leben am Existenzminimum, während sie in Portugal über die Runden kommen, ohne jeden Rappen zählen zu müssen.» Glücklich über das neue Leben fernab der Schweiz seien aber längst nicht alle. Die Forscherin: «Manche hatten in den Achtzigerjahren angesichts der damals geltenden Migrationspolitik keine Wahl, als ihre Kinder zunächst in Portugal zu lassen, und erleben jetzt mit ihren erwachsenen Kindern und Enkeln Ähnliches.» Einmal angekommen, sind sie oft enttäuscht und einsam: «Sie müssen sich in ein Land integrieren, das nicht mehr dasselbe ist – und in dem sie sich schlussendlich oft fehl am Platz fühlen.»
Im Fado, der für das Land typischen melancholischen Volksmusik, scheint man diese Zerrissenheit fast zu hören. Auch wenn Gisela Santos (23) auf ihrem Akkordeon spielt, die Finger über die Tasten tanzen lässt, den Faltenbalg auseinanderzieht und wieder zusammenschiebt: Die junge Frau ist im freiburgischen Estavayer-le-Lac geboren, aber heute ist das Städtchen für sie eher ein Urlaubsziel.
Starkes Wachstum in Portugal
«Anfang 2020 bin ich ausgewandert und ins Ferienhaus meiner Eltern in einem Dorf im Viseu-Distrikt gezogen. In der Schweiz fehlte mir etwas, heute weiss ich: Es war die portugiesische Art zu leben, etwa das tägliche Treffen auf einen Kaffee.» Das Zusammensein und Geniessen zähle dort mehr als der Konsum.
«Mein Vater schuftete sein Leben lang in der Schweiz auf dem Bau, um uns eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er war aber immer traurig, fern der Heimat leben zu müssen. Dass ich jetzt hier weiterstudiere und ein Reisebüro gründen möchte, spezialisiert auf Schweizer Kunden, ist auch eine Hommage an ihn.»
2011 stand Portugal am Rande des Staatsbankrotts. Seit fünf Jahren hat sich die Lage deutlich verbessert, die Arbeitslosenquote liegt fast auf Schweizer Niveau, das Wachstum gehört zu den stärksten in Europa. In vielen Branchen herrscht Personalnot, emigrierte Landsleute könnten einspringen.
Job finden war ein Kinderspiel
Seit 2019 wirbt die portugiesische Regierung daher ihre Emigranten zur Rückkehr. Das Programm «Regressar» (zurückkommen) winkt mit einer Beteiligung an den Umsiedlungskosten und mit Steuergeschenken. Bedingung ist eine unbefristete Anstellung.
Einen Job zu finden, war für Karolina Pinheiro ein Kinderspiel. «Ich konnte aus mehreren Stellen wählen! Portugal ist kein Drittweltland, für junge Menschen gibt es extrem viele Möglichkeiten.»
Ein weiterer Faktor, der die Rückkehr erleichterte, war ab 2017 der automatische Informationsaustausch. Wer ein Haus in der Heimat besitzt, muss es seitdem auch in der Schweiz versteuern. Alice Lopes* (37) und ihre Familie sind vom Kanton Aargau nach Lamego im Norden Portugals gezogen. «Mein Mann hat sein Elternhaus geerbt und wir hätten darauf hohe Steuern zahlen müssen. Zusammen mit den hohen Lebenskosten lohnte sich die Schweiz einfach nicht mehr. In Portugal verdient man zwar weniger, aber man erhält mehr für sein Geld.»
Portugiesen wichtig für Bausektor und Gastgewerbe
«Es ist bedauerlich, dass viele portugiesische Staatsangehörige unser Land verlassen», sagt Simon Wey, Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbands. Hauptgrund ist Portugals wirtschaftlicher Aufschwung der letzten Jahre. Doch auch die Schweizer Wirtschaft hat grosses Interesse, die hier ansässigen und gut integrierten Portugiesen im Arbeitsmarkt zu halten. «Sie sind gerade im Bausektor und im Gastgewerbe wichtig und füllen Lücken, für die zunehmend besser qualifizierte Schweizer oft nicht oder nicht in genügendem Ausmass zur Verfügung stehen.»
Zudem gelten sie als diskret und fleissig, blieben ihrem Arbeitgeber oft jahrelang treu.
Doch Karolinas Entscheid ist gefallen. In zwei Monaten wird sie ganz in der Nähe des Ortes, wo ihre Eltern vor 30 Jahren aufbrachen, die Kartons auspacken. Ihre Zukunft liegt in Caldas da Rainha, einer Kleinstadt an der Silberküste Portugals.
*Name geändert