Zwangsmedikation in Zürcher Psychiatrieheim
«Mit Schutzschild und Handschellen»

In Wald ZH betreibt ein gelernter Landwirt ein Heim für psychisch schwer kranke Menschen. Ihnen wurden Medikamente unter Zwang verabreicht. Auch das Personal leidet.
Publiziert: 28.03.2025 um 15:59 Uhr
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Aktualisiert: 28.03.2025 um 16:51 Uhr
Zwangsmedikationen, zu wenig Fachpersonal, hohe Fluktuation: Das Pflegeheim Ansbach Care in Wald steht in der Kritik.
Foto: Joel Hunn

Darum gehts

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Andrea M. Haefely
Beobachter

«Man muss sich das so vorstellen: ein Landwirt, bewehrt mit einem Schutzschild, Kampfstiefeln, Pfefferspray und Handschellen. Drei Polizisten. Und der hypernervöse Patient, der keine Spritze möchte», erzählt Psychiatriepflegefachfrau Carla Müller. Die vier Männer hätten den Heimbewohner zu Boden gedrückt, und sie habe ihm die Spritze verabreichen müssen. Manchmal seien auch Handschellen angelegt worden, sagt sie.

Eine Szene wie aus einem schlechten Psychothriller? Im Pflegeheim Ansbach Care in Wald ZH soll das Realität gewesen sein. Der Landwirt heisst Raphael di Gallo und ist Geschäftsführer der Einrichtung.

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Von diesem und weiteren Missständen berichtet ein halbes Dutzend ehemaliger Angestellter glaubhaft. Sie haben sich dem Beobachter zu erkennen gegeben, fürchten aber Repressalien. Deshalb haben wir sie anonymisiert.

Mit «AC-Cocktail» ruhiggestellt

Die Zwangsmedikationen wurden vorab geplant, das belegen E-Mails und SMS. «Es ging nicht um Gefährdungssituationen, sondern darum, aufwendige Patienten ruhigzustellen», sagt Meret Gyger, eine ehemalige Kaderangestellte.

Getroffen habe es zum Beispiel einen harmlosen Patienten, der manchmal den Feueralarm auslöste, um abhauen zu können. Die Spritze mit dem Sedativ soll der Chef «AC-Cocktail» genannt haben. AC steht für Ansbach Care, der Cocktail soll aus den Psychopharmaka Haldol und Valium bestanden haben.

Medizinischem Personal ist es gemäss Zivilgesetzbuch nur unter strengen Auflagen erlaubt, Patienten unter Zwang Medikamente zu verabreichen. Das Gesetz sei «nicht ganz klar», erklärt di Gallo dem Beobachter, aber man habe die Frage der Zulässigkeit vorgängig geprüft. Und: Er habe eine Ausbildung zum Security, habe aber nie selbst eine Zwangsbehandlung angeordnet, trage auch keinen Schild oder Pfefferspray. Und von einem «AC-Cocktail» wisse er nichts.

Gesichert ist: Di Gallo untersagte die Zwangsbehandlungen, allerdings erst, als eine Kontrolle durch den Bezirksrat, die zuständige Kontrollinstanz, anstand. Am 24. Februar 2024 schrieb Raphael di Gallo an seine Kaderangestellten: «Ein weiterer Punkt, den der Bezirksrat etwas detaillierter anschauen möchte, ist die Zwangsmedikation. Aus diesem Grund werden wir derzeit keine Zwangsmedikationen durchführen.» Man solle, so di Gallo weiter, den externen Psychiater entsprechend informieren, damit er sich «schon mal Gedanken machen» könne.

Kontrolle – nach Voranmeldung

Die Kontrolle kam zustande, weil eine besorgte Angestellte im November 2023 wegen des beschriebenen Falls und weiterer Missstände einen Brief an die zuständige Bezirksrätin und an die Zürcher Gesundheitsdirektion geschickt hatte. Zuvor habe sie ihre Bedenken mehrfach erfolglos bei der Geschäftsleitung deponiert, sagt sie. Das Schreiben liegt dem Beobachter vor. Darin informierte die Angestellte zwar anonym, aber detailliert über die Zustände und bat um Hilfe.

Es geschah nichts. Drei Monate später doppelte sie mit einem weiteren Schreiben nach.

Die Kontrollvisite erfolgte erst im Juni 2024 – mit Voranmeldung. «Normalerweise kommt der Bezirksrat unangemeldet und spricht mit den Angestellten ohne Anwesenheit des Chefs. Aber niemand von uns konnte mit der Bezirksrätin allein reden», sagt eine der damaligen Stationsleiterinnen.

Man habe unmittelbar nach Eingang der anonymen Anzeige eine umfassende Kontrolle in der Institution vorgenommen und führe seither regelmässig Kontrollen durch, antwortet der Bezirksrat Hinwil auf Anfrage. Auch die Gesundheitsdirektion des Kantons will kontrolliert haben. Die Informanten halten an ihrer Darstellung fest.

Mietvertrag schliesst forensische Patienten aus

Ansbach Care, von Raphael di Gallo in den Medien als «Anschlusslösung für die anspruchsvollsten Fälle nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik» beschrieben, umfasst drei geschlossene Stationen mit rund 16 Bewohnern. Etwa die Hälfte ist laut di Gallo aufgrund eines fürsorgerischen Freiheitsentzugs in Behandlung.

Dem Beobachter erklärt der 33-Jährige, dass er keine forensischen Patienten aufnehme, die unter eine stationäre Massnahme fallen. Darunter versteht man Straftäter, die laut Gericht aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht oder vermindert schuldfähig sind und in forensisch-psychiatrischen Kliniken untergebracht werden müssen.

Ein Zusatz zum Mietvertrag zwischen Ansbach Care und der Vermieterin des Gebäudes besagt, dass das Heim für insgesamt 20 Jahre auf forensische Patienten verzichten muss. Trotzdem wurde im April 2024 ein psychisch schwer kranker Straftäter aus einem Gefängnis des Kantons Baselland «zur Probe» aufgenommen. Er lebt nach wie vor im Heim.

Dass man Anschlusslösungen für eine Klientel anbiete, die von der Forensik in das Zivilrecht überführt werde, sei mit der Vermieterschaft abgesprochen, sagt di Gallo. Und meint damit psychisch schwer kranke Täter, die ihre Strafe abgesessen haben, aber anschliessend in einem psychiatrischen Heim untergebracht werden müssen.

«Gemäss Vereinbarung mit dem Mieter dürfen keine forensischen Patienten aufgenommen werden. Dabei wird keine Unterscheidung gemacht, ob es sich um eine definitive oder eine Aufnahme auf Probe handelt. Andere Abmachungen wurden nicht getroffen», betont hingegen die Vermieterin.

Mehr Zimmer, mehr Patienten, mehr Geld

Je mehr Patienten, desto mehr Umsatz. Kaum war das Heim im Oktober 2022 vom Gesundheitsinspektorat abgenommen und die Bewilligung erteilt, liess Raphael di Gallo Umbauten vornehmen. Aus einigen Zimmern im ersten Stock wurden zwei gemacht, die die Mindestgrösse von 14 Quadratmetern unterschreiten. Es fehlen Nasszellen und Aufenthaltsfläche. Di Gallo widerspricht: Man habe genügend Nasszellen und Aufenthaltsflächen. Dem Beobachter liegen gegenteilige Unterlagen und Aussagen dazu vor.

Die Informantinnen beklagen auch, dass zu wenig Fachpersonal für die vielen schwierigen Patienten angestellt sei und zudem die Fluktuation wegen der beunruhigenden Pflegesituation gross sei. Vom Pflegepersonal, das bei der Eröffnung vor drei Jahren antrat, sei ein Grossteil nicht mehr da, sagt Meret Gyger. Die meisten hätten gekündigt.

Di Gallo erklärt auf Anfrage, derzeit seien 50 Pflegende im Einsatz und mehr Fachpersonal, als es der kantonale Mindeststellenplan vorgebe. «Bei den Einsatzplänen fällt allerdings auf, dass Pflegende auch auf anderen Stationen eingesetzt werden als auf denjenigen, auf denen sie normalerweise arbeiten», entgegnet Gyger.

Zudem wurde bemängelt, dass der externe Psychiater nur einmal in der Woche vorbeikam. Das war mindestens bis Herbst 2024 so. Heute habe man zwei Psychiater, die Visite hielten, sagt di Gallo.

Pflegende im Lift attackiert

Zwangsmedikation, zu kleine Zimmer und zu wenig geschultes Personal bedeuten aber auch eine Gefahr für die Pflegenden. Gebrochene Rippen, ein ausgekugelter Finger, eine gebrochene Nase – Verletzungen, die Pflegende im Pflegeheim Ansbach Care bereits erlitten haben.

Auch Maja Gabathuler traf es. «Ich bin Fachfrau Betreuung und hatte an jenem Sonntagmorgen mit nur einer Pflegehilfe Frühdienst auf einer Station mit 15 Patienten. Ich fuhr mit dem Lift auf unser Stockwerk. Als sich die Tür öffnete, stand Herr P. da und schlug mir ohne Vorwarnung ins Gesicht, riss mich an den Haaren, trommelte regelrecht auf mich ein», erzählt sie.

Den Alarmknopf am Stationshandy muss man dreimal drücken, bis der Alarm losgeht. Das schaffte sie nicht. «Ich musste mich gegen die Schläge schützen.»

Die Pflegehilfe konnte den Patienten von ihr trennen, und sie verschanzten sich vor ihm hinter einer Glasbrandtür. «Ich rief die Pflegedienstleitung an, weil wir Order haben, jeweils die Erlaubnis einzuholen, bevor wir die Polizei rufen. Dann die Polizei. Und danach kümmerte ich mich um seine Einweisung in die PUK (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Anm. d. Red.)», erinnert sich Maja Gabathuler. Von einer solchen Anordnung, die mehrere Informanten bestätigen, will di Gallo nichts wissen.

P. gilt als sogenannter Systemsprenger, war schon in verschiedenen Heimen. Er leidet an spontan auftretenden Wahnanfällen und wird dann aggressiv. Diese Zustände kündigen sich an, er ist vorher aufgeregt und unruhig – wie am Abend vor der Liftattacke. Die diensthabende Pflegefachfrau hätte ihm deshalb seine Reservemedikation geben sollen.

Normalerweise erhält P. das Mittel als Tröpfchen oder Tablette, die er problemlos einnimmt. Doch die Pflegefachfrau habe stattdessen eine Ampulle mit Valium aufgezogen, die ihr dabei zu Boden gefallen und zu Bruch gegangen sei. In der Aufregung sei vergessen gegangen, dass man P. die Reservemedikamente hätte geben sollen, sagen Informantinnen, was di Gallo nicht bestreitet.

Prellungen und Schädel-Hirn-Trauma

Das alles erfuhr Maja Gabathuler erst hinterher. Sie erlitt beim Angriff neben Prellungen ein Schädel-Hirn-Trauma, musste sich noch vor Ort übergeben. Sie leidet bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an Panikattacken.

Mehr als am Angriff habe sie aber am Verhalten ihrer Vorgesetzten zu nagen, sagt sie. «Man fragte nicht ein einziges Mal nach, wie es mir geht. Ich musste sogar meinen Transport in den Notfall selber organisieren. Und als ich wegen der Versicherung zur HR-Abteilung musste, hiess es nur, ich hätte jetzt den Bonus verspielt.» Diesen Bonus erhält, wer das ganze Jahr nie aus Krankheitsgründen fehlt.

«Die Mitarbeitenden sagten, unsere Anwesenheit sei nicht nötig», sagt di Gallo. Und man habe sich sehr wohl nach der Betreuungsfachfrau erkundigt und ihr Hilfe angeboten. Mitte Dezember erhielt sie die Kündigung – just als die Sperrfrist für Kündigungen im Krankenstand vorbei war.

Gebessert hat sich nach dem Besuch der Bezirksrätin nicht viel. Zwangsmedikationen mit körperlichem Einsatz werden zwar nicht mehr gemacht. Der Bezirksrat habe sich gegen eine Zwangsmedikation im Heim entschieden, sagt di Gallo. Deshalb würden die Betroffenen seither in eine Klinik überführt.

«Die Medikamente wurden den entsprechenden Patienten danach einfach im Müesli oder im Kaffee untergejubelt», sagen hingegen die Informantinnen. Dieses Vorgehen wäre ebenfalls widerrechtlich, wird von di Gallo aber dementiert.

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