Am 8. November landete Marcio R.* (44) im Rahmen einer Geschäftsreise am Flughafen Zürich. Nur wenig später fehlte von ihm jede Spur. Erst am 22. November berichtete die brasilianische Zeitung «O Globo», dass R. in Spanien wieder aufgetaucht sei. Nun, drei Wochen später, hat sich der Südamerikaner im brasilianischen TV zu seinem Verschwinden geäussert.
«Ich war mir sicher, dass ich meine Frau, meine Kinder nie wieder sehen würde. Ich war sicher, dass ich sterben würde», so R. Entführt hatte ihn eine internationale Kriminellen-Gang. Mittlerweile ist er wieder in seiner Heimatstadt Itupeva, wo er dem TV-Sender R7 seine Odyssee schilderte.
«Stand die ganze Zeit im Visier von Kriminellen»
Der Geschäftsmann hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Investments in Kryptowährungen getätigt. 2018 lernte er einen Anwalt und Trader kennen, der ihm einen lukrativen Deal mit Schweizer Geschäftsleuten unterbreitete, die ein Büro in São Paulo hatten. Vor vier Monaten fing Marcio damit an, kleinere Beträge von seinem Gewinn abzuziehen. Als er jedoch einen grösseren Betrag seines Profits haben wollte, teilte ihm die Kontaktperson mit, er müsse für eine persönliche Identifikation in die Schweiz reisen.
Was Marcio verborgen blieb: Er sollte übers Ohr gehauen werden. «Ich stand die ganze Zeit im Visier von Kriminellen», sagt er im Nachhinein. Marcio nahm sein Handy mit nach Zürich, darauf waren ein Chip und eine App installiert. Und genau darauf hatten es die Verbrecher offenbar abgesehen. Es soll um «Millionen brasilianischer Reals und Euros» gegangen sein.
Marcio stieg am 7. November am Flughafen Guarulhos in São Paulo ins Flugzeug. Beim Umstieg in Barcelona fingen ihn die Kriminellen erstmals ab. «Als ich bei der Röntgenmaschine stand, um mein Gepäck zu kontrollieren, waren drei Personen in weissem Hemd und Badges dort. Eine rief meinen Namen. Ich hob die Hand. Die Person sagte zu mir: ‹Ich muss Ihnen eine neue Bordkarte ausstellen, diese hat einen Fehler.›»
Im Glauben, es handele sich um normales Personal, gab Marcio seine Bordkarte ab und erhielt ein neues, identisch aussehendes Ticket. Die Ganoven hatten sich die Strichcodes für die Gepäck-Identifizierung unter den Nagel gerissen. Als Marcio in Zürich aus dem Flieger kam, waren seine Koffer weg.
Marcio R. wurde mit Pistole bedroht
Beim Fundbüro des Flughafens konnte ihm keiner weiterhelfen. Die Suche nach dem verlorenen Gepäck sollte mindestens fünf Stunden andauern, sagte ihm das Personal. Marcio kontaktierte seinen Schweizer Ansprechpartner, bald darauf tauchten zwei Männer auf, die ihn in die Stadt bringen sollten. Das Duo forderte von Marcio Fingerabdrücke und nahm ihm seinen Pass ab. «Erst dann wurde mir klar, dass das alles eine Falle war.»
Misstrauisch geworden, meldete sich Marcio erneut bei seiner Kontaktperson. Der Spanier «Juan» sagte ihm, er solle ein Taxi in die Stadt nehmen. Dort würde Marcio seinen Ausweis zurückerhalten und im Hotel abgesetzt werden. Der Taxifahrer setzte Marcio in der Stadt ab. Plötzlich rief ihm jemand aus einem schwarzen Lieferwagen zu: «Marcio, du kannst einsteigen.» Was der Brasilianer nicht wusste, der Van sollte ihn bis nach Frankreich bringen.
Marcio wurde von den Kriminellen in einem Haus untergebracht. «Heute kann ich ein wenig darüber sprechen, aber es war nicht einfach. Zwölf Tage gefangen, ohne Dusche, ohne Zähneputzen, ich ass nur Brot und Wasser», erzählt er. Die Gangmitglieder bedrohten ihn mit einer Pistole, Tag und Nacht wurde er bewacht. «Das ist etwas, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich das erleben würde. Wir sassen an einem Tisch und redeten, rauchten, assen, die Waffe lag immer auf dem Tisch.»
Offenbar war das Haus für eine Entführung präpariert worden. «Als ich ankam, lagen dort eine Matratze, eine Decke und ein Kissen.» An Schlaf war für Marcio aber nicht zu denken. «Die Regeln waren sehr seltsam. Die Nacht über musste ich in diesem Raum ohne Tür bleiben. Und tagsüber musste ich auf der Terrasse bleiben», berichtet er im R7-Interview. Kleider und Schuhe durfte er nicht tragen.
Vier Länder haben Ermittlungen aufgenommen
Am zwölften Tag der Entführung fuhren zwei der drei Gangmitglieder mit dem Auto davon. Marcio war mit dem verbliebenen Gangster allein. «Er stand schräg zu mir, ich war etwa drei Meter von ihm entfernt und warf mich auf ihn. Durch mein Gewicht geriet er aus dem Gleichgewicht und stiess mit dem Kopf gegen die Wand. Er stürzte und schlug mit dem Kopf auf das Waschbecken», schildert Marcio. «Da konnte ich raus.»
Fast 20 Kilometer lief der Brasilianer, bevor er eine Tankstelle fand, an der ein Mann Portugiesisch sprechen konnte. Sofort kontaktierte Marcio seine Familie, anschliessend reiste er nach Barcelona zu Verwandten. Sie brachten den Geschäftsmann zur Polizei.
Mit Spanien, Frankreich, der Schweiz und Brasilien ermitteln nach Marcios Angaben nun vier Länder in dem Fall. Sein Geld ist weg. Die ganze Familie steht mittlerweile unter Polizeischutz. Marcio R. muss ganz von vorn anfangen. «Aber heute bin ich nur dankbar für das Leben. Den Rest werden wir lösen.» (nad)
* Name bekannt