Eigentlich müsste man wissen: Blindenhunde soll man bei der Arbeit nicht stören. Das heisst also: Nicht streicheln! Doch die Verlockung ist gross, und manche tun es trotzdem. Und da wären wir bereits beim ersten Problem: Auch nach 20 Jahren Behindertengleichstellungsgesetz ist die Sensibilisierung über den Umgang und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen lückenhaft.
Der Verein für Blindenhunde und Mobilitätshilfen (VBM) ist eine von vier anerkannten Schweizer Schulen, die Blindenhunde – oder Blindenführhunde, wie es korrekt heisst – ausbildet. Und sie ist der einzige Ort, an dem 14 verschiedene Rassen ausgebildet werden: vom Labrador zum Deutschen Schäferhund bis zu Mischlingen wie Labradoodle (Labrador und Pudel). Geschäftsführer Peter Kaufmann sagt: «Jede Person hat individuelle Bedürfnisse. Für Allergiker eignet sich beispielsweise ein Grosspudel hervorragend.»
Der lange Weg zum Blindenhund
Laut einer Studie des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen leben in der Schweiz etwa 377'000 sehbehinderte Personen. Doch schätzungsweise haben nur etwa 300 davon einen Blindenhund. Der VBM bildet pro Jahr zehn Blindenhunde aus, die Wartefrist ist lang: Bis zu zwei Jahre müssen sich Betroffene gedulden. Ein Grund: Die Ausbildung zum Blindenhund ist lang und kompliziert.
Mit drei Monaten zieht ein Welpe bei einer Patenfamilie ein, diese begleitet ihn ein Jahr lang. Dazu gehören neben der Grunderziehung regelmässige Ausbildungstage, Tierarztkontrollen sowie viel Geduld und Liebe – vergütet wird diese Arbeit nicht. Passende Patinnen oder Paten sind ein knappes Gut, denn die Anforderungen sind hoch: Viel Zeit braucht der Schützling, weshalb eine Vollzeitstelle oft nicht möglich ist. Zudem soll der Betreuer körperlich fit sein, weshalb ältere Personen meist nicht infrage kommen.
Ist der Welpe ein- bis eineinhalbjährig, trennen sich die Wege, und die eigentliche Ausbildung beginnt. Mit erfahrenen Instruktorinnen und Instruktoren trainieren die Hunde während sechs bis neun Monaten intensiv: Rund 40 Hörzeichen müssen gelernt werden, wie etwa «links», «Stopp» oder «Such Tür». Und das auf Italienisch, weil die vokalreiche Sprache für Hunde besonders verständlich ist. Und: «Wir wissen ja nicht, wohin der Hund schlussendlich vermittelt wird. Der Walliser Dialekt unterscheidet sich erheblich vom Berndeutsch, und das könnte den Hund sehr verwirren», sagt Kaufmann.
Nach bestandener Abschlussprüfung ist das Tier ausgewiesener Blindenführhund und kann bei einer sehbehinderten Person platziert werden. Etwa 60 Prozent der Hunde bestehen die Prüfung, was laut Kaufmann eine sehr gute Quote ist. Diejenigen, welche die Prüfung nicht bestehen, können einen Karrierewechsel in Betracht ziehen: Sie begleiten beispielsweise Menschen mit Autismus oder werden sogenannte Botschafterhunde. Der Rest wird privat vermittelt.
«Wir machen mit jedem Hund Verlust»
Ein Blindenhund ist für eine sehbehinderte Person eine enorme Entlastung: Während die Orientierung mit dem weissen Stock mühsam ist und höchste Konzentration erfordert, haben Betroffene, die mit dem Hund unterwegs sind, beispielsweise genügend Kapazität, um während eines Spaziergangs ein Gespräch zu führen.
Doch so hilfreich ein Hund ist, so schwierig steht es um die finanziellen Mittel: Die Ausbildung eines Blindenhundes und die nachfolgende Betreuung kosten rund 70'000 Franken. Die monatlichen Beiträge der IV decken gerade einmal die Hälfte der Kosten. Alles andere basiere auf Spenden und Freiwilligenarbeit, sagt Kaufmann. «Fakt ist, wir machen mit jedem Hund Verlust.»
Auch Blindenhunde brauchen eine Work-Life-Balance
Ein Blindenhund ist nicht ständig im Einsatz. Er hat gelernt: Trägt er sein Geschirr, gilt es ernst. Dann muss er sich voll konzentrieren und darf nicht abgelenkt werden. Auch wenn das schwerfällt. Aber: «Auch Hunde brauchen eine Work-Life-Balance», sagt Kaufmann. Wird das Geschirr abgelegt, ist Zeit für Spielen, Kuscheln und Fressen.
Mit 10 Jahren darf der Hund in Pension gehen. Manchmal lebt er dann als Privathund bei der sehbehinderten Person. Meistens wird er jedoch einer neuen Familie zugewiesen. Und darf dort seinen verdienten Ruhestand geniessen.