Die Verunsicherung ist gross in Visperterminen, einem 1300-Seelen-Dorf im Oberwallis. «Viele trauen sich zum Spazieren nicht mehr in den Wald, schon gar nicht alleine», sagt Gemeindepräsident Niklaus Heinzmann (45). Denn: Der Wolf geht um.
Heinzmann steht an diesem verschneiten Freitag auf einer schmalen Strasse oberhalb der Ortschaft. Hier fand ein Landwirt frühmorgens vor knapp drei Wochen den Kadaver einer jungen Hirschkuh – neben einem Spielplatz und keine 100 Meter vom nächsten Wohnhaus. Abgenagt bis auf die Knochen. Gerissen vom Nanztal-Wolfsrudel.
Die sechs Raubtiere sind hier Thema Nummer 1. Den Hund von der Leine zu lassen, komme nicht mehr infrage, sagt einer. Abends oder nachts zu Fuss durch den Wald? «Keine Chance!» Der Wolf, sagen die Visperterminer, werde inzwischen praktisch täglich rund ums Dorf gesichtet. Heinzmann sagt, mehr als 50 Nutztiere seien in diesem Jahr bereits gerissen worden. Der Alpsommer wurde vielerorts vorzeitig beendet.
Die Wildhüter versicherten zwar, dass das Raubtier nur im Märchen Menschen anfällt. Dennoch, so Heinzmann, bekämen gerade Familien mit Kindern Angst, wenn nachts sein Geheul zu hören ist. Mit SVP-Umweltminister Albert Rösti (56), sagen die Leute im Bergdorf, halte endlich einer die Zügel fest in der Hand. Endlich einer, der die Bergler verstehe.
Der Bundesrat beschloss Anfang November, Wölfe zum Abschuss freizugeben: Vom 1. Dezember bis zum 31. Januar dürfen sie präventiv abgeschossen werden. Rösti setzte die neue Jagdverordnung im Rekordtempo durch. Diese Woche wurden die Gesuche der Kantone genehmigt – zwölf Rudel dürfen in den Kantonen Graubünden, Wallis, Waadt und St. Gallen eliminiert werden.
Pro Natura und WWF wollen Abschussverfügungen juristisch prüfen
Sieben der zum Abschuss freigegebenen Rudel leben im Wallis, darunter auch das Nanztal-Rudel, das seit Wochen in der Umgebung von Visperterminen umherstreift. «Wir sind erleichtert», sagt Heinzmann. Der Bundesrat hofft, dass die Wölfe durch die proaktive Regulierung wieder scheu werden und Abstand von Siedlungen halten.
Im Oberwallis hat man diesen Entscheid herbeigesehnt, doch Umweltorganisationen laufen gegen Röstis Politik Sturm. Sie bezeichnen die präventive Regulierung als unwissenschaftlich und nicht zielführend. Ihre Forderung: mehr Herdenschutz statt präventiver Abschüsse. Pro Natura und WWF wollen die kantonalen Abschussverfügungen juristisch prüfen und bei Gerichten Beschwerde einlegen, wenn sie eine Verletzung des Jagdgesetzes erkennen. Dabei haben sie besonders das Wallis im Auge, den Kanton, der die weitreichendsten Eingriffe angeordnet hat.
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Die Wolfsjagd startete am Freitag im Südkanton mit einem ersten Erfolg: Die Behörden meldeten nur wenige Stunden nach Beginn der Sonderjagd den Abschuss eines Jungwolfs. Bis Ende Januar sollen 33 weitere Tiere folgen. 800 Jäger haben sich im Wallis gemeldet, um die Wildhüter bei dieser Aufgabe zu unterstützen.
Vielen Jägern bietet die Freigabe der Wölfe eine seltene Möglichkeit: Ein bisher streng geschütztes Tier und dann noch ein Raubtier – eine solche Jagd hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben! Während die Kadaver geschossener Wölfe in Graubünden verbrannt werden, dürfen die Jäger im Wallis erlegte Tiere behalten.
Eine Jagd also nach einer begehrten Trophäe? Nein, sagt der Jäger Daniel Kalbermatter (51). Er führt die grosse Beteiligung viel mehr auf den grossen Leidensdruck zurück: «In praktisch jeder Familie der Jäger gibt es Schaf- oder Ziegenzüchter, die unter Wolfsrissen leiden.» Und auch die Jagd sei unmittelbar vom Wolf betroffen: Das Raubtier fresse den Jägern die Beute weg. «Für uns gibt es keinen Grund, bei der Wolfsregulierung nicht mitzumachen, wir gehen ja sowieso jagen», sagt Kalbermatter, der bis vor zwei Jahren den Walliser Jägerverband präsidierte und in Visp VS als Versicherungsagent tätig ist.
Jäger bekommt regelmässig Drohungen
Nicht alle sehen es so nüchtern wie er. Denn das Thema ist heikel. Besonders in diesen Tagen. Der Eingang zur Dienststelle Jagd, Fischerei und Wildtiere in Sitten VS wurde in der Nacht auf Freitag mit Flugblättern tapeziert: «Stoppt die Wolfsabschüsse» oder «Wilderei, kennst du das?», war da zu lesen.
Die Grünröcke werden im Wallis wie in Graubünden an obligatorischen Weiterbildungen zur Diskretion aufgerufen. Die Behörden wollen keine Erfolgsmeldungen auf Social Media – und schon gar nicht die Bilder toter Wölfe. Den Jägern wurde zudem nahegelegt, nicht mit Medienschaffenden zu sprechen.
Jäger Kalbermatter begrüsst die behördliche Bitte um Zurückhaltung. Obwohl er selbst nie als Wolfsschütze aufgetreten ist, sei er als Präsident des Jägerverbands beim Thema Wolfsregulierung für viele «die Reinkarnation des Bösen» gewesen. Kalbermatter spricht von regelmässigen Drohungen: «Die nächste Kugel wird für dich bestimmt sein», sei eine anonyme Nachricht von vielen, die er erhalten habe. Auch seine Familie werde nicht verschont: Man wisse, wo seine Kinder zur Schule gehen, habe man ihm mehrfach mitgeteilt.
Er habe sich über die Jahre ein dickes Fell zugelegt, sagt Kalbermatter. Er wolle sich aber nicht ausmalen, was los wäre, wenn ein Jäger mit einem toten Wolf im Netz posieren würde. Jeder sollte sich daher gut überlegen, ob und wie er die Jagd inszeniert.
Dass ihm demnächst ein Wolf vor die Flinte läuft, glaubt Kalbermatter nicht. So wird es den meisten der 800 freiwilligen Jäger ergehen. Im Wallis findet es niemand realistisch, dass es gelingen wird, die 34 Wölfe zu eliminieren. Selbst der Kanton gibt an, dass bereits zehn erlegte Tiere ein Erfolg wären. Der Wolf ist schlau, lernfähig und vorsichtig – das hochalpine Gelände und der Wintereinbruch erschwerten die Jagd zusätzlich.
Auch Gemeindepräsident Heinzmann macht sich da keine Illusionen. Gelingt beim Nanztal-Rudel ein erster Abschuss, werde sich der Rest des Rudels wohl für einige Zeit zurückziehen. Spätestens zum nächsten Alpsommer dürften die Raubtiere dann aber wieder ums Dorf streifen.
Die Erlaubnis zum Wolfsabschuss ist auch für Visperterminen wohl höchstens eine Lösung auf Zeit.