Die Zahl der Wolfsrisse in der Schweiz steigt. Trotz Herdenschutzmassnahmen gelingt es den Raubtieren immer häufiger, an Viehbestände von Bauern zu gelangen und grossen Schaden anzurichten. Christian Stauffer (62), Geschäftsführer der Stiftung Kora, die sich mit Raubtierökologie und Wildtiermanagement befasst, bestätigt die Zunahme an Übergriffen auf Nutztiere. «Innerhalb weniger Jahre haben die Wolfsbestände schweizweit massiv zugenommen. Während es 2012 noch ein Rudel war, sind es mittlerweile 20», sagt Stauffer zu Blick. Im vergangenen Jahr wurden laut Kora 853 Nutztiere gerissen – dieses Jahr wird mit mehr als 1000 Rissen gerechnet.
Dementsprechend hoch ist auch die Schätzung der Anzahl Wölfe in der Schweiz. «Es werden rein rechnerisch gegen 200 Wölfe sein», schätzt Arno Puorger (31). Der Wildtierökologe arbeitet beim Bündner Amt für Jagd und Fischerei und ist für Grossraubtiere zuständig. Die zunehmenden Konflikte nennt er «zweifellos besorgniserregend».
«Überall war Blut»
Neben dem Kanton Graubünden, der am stärksten von Raubtierangriffen betroffen ist, sorgen Wolfsrisse auch im Wallis und Tessin für Unsicherheit – so etwa im Rovannatal. Davon berichtet Emanuel Corona (31) aus Cerentino TI. Die Bilder gerissener Tiere lassen der Tessiner Bergbauern einfach nicht mehr los.
Ende März 2022 dringen Wölfe ins Gehege. Sie reissen zwei Schafe. Drei Wochen später ein neuer Angriff, wieder in Cerentino, nur wenige Meter von den Häusern entfernt. Diesmal töten sie 20 Tiere, darunter auch trächtige Muttertiere und Lämmchen. «Im Mai habe ich 40 Schafe auf die Alp treiben wollen. Noch in derselben Nacht gab es ein weiteres Massaker», erzählt Emanuel Corona. «Die Tiere kamen nicht hinunter. Da bin ich raufgegangen. Gar nicht weit von der Hütte entfernt habe ich ihre aufgerissenen Leiber gesehen. Überall war Blut.»
75 Prozent der Herde an die Wölfe verloren
Von den einst 97 Schafen sind ihm und seinem Partner Marco Frigomosca (69) bloss noch zwei Dutzend Tiere geblieben. In nur zwei Monaten haben die Bauern über 75 Prozent ihrer Herde verloren. Bei einem vierten Angriff in Bosco Gurin TI gehen die Wölfe auf elf Esel von Emanuel Corona los. Zudem töten sie vier Zieglein. «Sie haben eine dreijährige Eselin gefressen und ein Junges schwer verletzt», erzählt er weiter, «ich habe es auf den Schultern ins Tal getragen und zur Veterinärin gebracht. Wir wissen nicht, ob es überleben wird.»
Der junge Bergbauer ist ratlos. «Ich kann mir nicht jedes Jahr eine neue Herde kaufen. Die Tiere müssen das Gelände ja kennen.» Auf die Alpen können die Tiere nicht mehr. Das würde ihren Tod bedeuten – einen grausamen. Er hat in eine neue kleine Käserei investiert. «Soll ich die einfach schliessen?»
Schutzmassnahmen seien wirkungslos in diesem Gebiet. «An den Hängen mit Baumbestand kann man schlecht hohe Zäune ziehen», sagt Emanuel Corona. «Bosco Gurin ist zudem ein beliebtes Wandergebiet, es ist für Herdenschutzhunde nicht geeignet.» Sie könnten Wanderer angreifen. Vom Kanton sei er zutiefst enttäuscht. «Meine Not interessiert dort niemanden. Sie informieren dich nicht, sie schützen dich nicht», so Corona.
Kadaver aus Protest vor den Regierungssitz gekippt
Immer wieder rissen Wölfe in den vergangenen Jahren die Schafe und Ziegen von Marco Frigomosca. Zusammen mit anderen Wolfsgegnern lud er im April 2022 die Kadaver auf seinen weissen Pick-up und karrte sie nach Bellinzona TI. Vor dem Regierungspalast haben sie die toten Tiere aus Protest auf das rote Kopfsteinpflaster geworfen. Jetzt hat Frigomosca resigniert.
«Er geht in Rente», sagt Corona, «ich aber stehe erst am Anfang meines Berufslebens. Ich bin schon als Kind auf die Alp gegangen. Wovon soll ich denn leben?» Germano Mattei (70) kennt die Verzweiflung der Bauern. Der Architekt aus dem Maggiatal ist Co-Präsident des Vereins Schweiz zum Schutz der ländlichen Lebensräume vor Grossraubtieren.
Die Wölfe reissen nun auch Kühe
«Die Tierhalter stehen unter Dauerstress», sagt Mattei. Die Wolfssituation im Tessin sei ausser Kontrolle. Schätzungen zufolge seien im Südkanton 25 Wölfe unterwegs. «Es sind auch viele Rudel aus dem benachbarten Italien, die über die Grenze kommen», sagt Mattei. In der aktuellen Statistik der kantonalen Jagdaufsicht werden 260 tote Nutztiere für 2022 gemeldet, an denen Wolfs-DNA gefunden wurde. 73 davon waren bereits verwest und werden nicht klar als Wolfsrisse gezählt. Zum Vergleich: 2021 waren es noch 69 Risse. Und: Die Wölfe reissen immer grössere Tiere.
Das mussten die Milchbauern Fabio (54) und Giovanni Giglio (27) aus dem Bleniotal bei ihren eigenen Tieren erleben. Vater und Sohn haben 140 Kühe in Olivone TI. «Ende August wurde das erste Kalb gerissen», erzählt der Sohn, «ein zehn Monate altes Tier. Mitte Oktober folgte der zweite Riss bei den Giglios. Wieder ein grosses Kalb von neun Monaten. «Auch unser Nachbar hat ein Kalb verloren», so Giovanni Giglio weiter. Was die beiden Bergbauern besonders beschäftigt: «Während eines Info-Abends im Frühjahr zum Thema Wolf hiess es noch, Milchbauern bräuchten sich keine Sorgen zu machen, Wölfe rissen keine Kühe», erinnert sich Fabio Giglio und fragt sich: «Werden die Wölfe auch bald Menschen angreifen?»