Ursula Wasers (71) Lebensweg ist bei ihrer Geburt vorgegeben. Nicht weil Gott das so will. Sondern die Schweiz. Ursula Waser kommt als Ursula Kollegger 1952 in Rüti ZH zur Welt. Einen Vater gibt es nicht. Die Mutter ist alleine, unverheiratet und vor allem: eine Jenische. Ein halbes Jahr nach der Geburt steht deshalb die Polizei vor der Tür, packt die kleine Ursula und fährt mit ihr in ein Kinderheim. Das Mädchen bleibt bis fast 19 versorgt. Muss in 14 Heime und zu einer Handvoll Pflegefamilien, 26 Mal wird sie dafür innerhalb von acht Kantonen umplatziert. Viele Zahlen, Ursula Waser behält sie heute alle im Kopf. Sie helfen ihr, die Bruchstücke ihrer Vergangenheit zusammenzuhalten. Das Unfassbare fassbarer zu machen, sagt sie: «Ich bin eine Jenische, und deshalb hatte ich nie eine Chance.»
Ursula Waser aus Holderbank AG ist Opfer in einem der grössten Skandale der Schweizer Sozialgeschichte. So wie 600 andere mit ihr. Täter ist das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute. Ab 1926 registrierte und verfolgte dieses systematisch Jenische, Sinti und Roma. Nahm Hunderten von Familien die Kinder weg, verfrachtete Männer und Frauen in Kliniken und Anstalten. Behörden, Psychiater und Gerichte dienten ihm zu. Selbst die Regierung machte mit, Stiftungsratspräsident war immer ein Bundesrat. Erst 1973, unter grossem Druck, machte man der Aktion ein Ende. Doch Opfer wie Ursula Waser müssen weiter damit leben, sie sagt: «Das kann die Schweiz nie wiedergutmachen.» Auch wenn sich viele danach sehnen.
Eine Rechtsprofessorin gibt ihnen recht
Kürzlich machten jenische Organisationen einen offenen Brief an Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider publik. «Der Bund hat die Stiftung und die Verfolgungsaktionen und Vernichtungsversuche mitgetragen», schreiben sie. Sie fordern: Bundesrat und Parlament sollen die Taten des «Hilfswerks» als kulturellen Genozid an Jenischen und Sinti verurteilen. Ursula Waser ist Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische und unterstützt die Stossrichtung. Sie will, dass der Bundesrat die Genozid-Frage untersuchen lässt und einen Entscheid fällt. «Dann hätten wir endlich Gewissheit.» Und einige könnten Frieden finden. Seit Jahren «stüdele» die Regierung die Sache hinaus.
In der Schweiz leben rund 30’000 Jenische und eine unbestimmte Anzahl von Sinti, 10 Prozent sind Fahrende. Roma gibt es hierzulande schätzungsweise 80’000. Genau weiss man es nicht, weil die allermeisten erst anlässlich der Balkankriege in den Neunzigerjahren kamen und sich nie «geoutet» haben. So sind es denn auch vor allem Jenische, die die Pro Juventute mit «Kinder der Landstrasse» verfolgt hat. Ab den Achtzigerjahren arbeitet die Schweiz die Taten auf. 2016 anerkannte der Bundesrat Jenische und Sinti offiziell als Minderheit in der Schweiz.
In der Schweiz leben rund 30’000 Jenische und eine unbestimmte Anzahl von Sinti, 10 Prozent sind Fahrende. Roma gibt es hierzulande schätzungsweise 80’000. Genau weiss man es nicht, weil die allermeisten erst anlässlich der Balkankriege in den Neunzigerjahren kamen und sich nie «geoutet» haben. So sind es denn auch vor allem Jenische, die die Pro Juventute mit «Kinder der Landstrasse» verfolgt hat. Ab den Achtzigerjahren arbeitet die Schweiz die Taten auf. 2016 anerkannte der Bundesrat Jenische und Sinti offiziell als Minderheit in der Schweiz.
Die Jenischen sind nicht alleine. Stimmen aus der Rechtswissenschaft stützen das Anliegen. Nadja Capus, Strafrechtsprofessorin an der Universität Neuenburg, sagt: «Die Anerkennung, dass es sich um einen kulturellen Genozid gehandelt hat, hätte eine wichtige symbolische Bedeutung.» Die Schweiz habe noch nie zugegeben, dass die Taten kriminell waren. Denn: Noch nie gab es ein Strafverfahren. Das stellte Nadja Capus bereits 2006 in ihrem Buch «Ewig still steht die Vergangenheit?» über die Kindswegnahmen der Pro Juventute fest. Sie kommt zum Schluss: Der Tatbestand einer Form von Völkermord ist erfüllt. Und stützt sich auf eine Passage der Uno-Völkermordkonvention: Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Capus sagt: «Bei der Aktion ging es gerade darum, die jenischen Kinder der eigenen Volksgruppe zu entfremden.»
Der Versuch, die «Vaganterei», das Herumziehen, auszulöschen, bedeutet für die kleine Ursula: Sie ist von ihren Wurzeln abgeschnitten. Die Familie darf sie nicht besuchen. Das hält das Kind nicht davon ab, die Mutter zu suchen. Das Kinderheim La Margna aus Celerina GR schreibt 1955 an Ursulas Vormund: «Eine Zeit lang probierte sie uns abzuschleichen, und wir haben uns gesagt, dass ihr das im Blut liege, denn wir mussten recht streng werden, bis das aufhörte.»
Nach Jahren darf Ursula die Mutter wiedersehen. Doch Liebe kann diese der Tochter keine mehr geben. Und auch keinen Schutz. Das Kind ist dem Stiefvater, der sie missbraucht, ausgeliefert. In der Nacht auf ihren 14. Geburtstag – das hat sich Waser bis heute eingebrannt – steigt auch der Onkel zu ihr ins Bett und vergewaltigt sie. 1968 stehen beide Männer vor Gericht. Der Onkel rechtfertigt sich: Er habe damals gewusst, dass Ursula «ein leichtes Mädchen» sei. Er kommt mit ein paar Monaten bedingt davon, für den Stiefvater gibt es einen Freispruch. Das hat System, sagt Ursula Waser. «Wenn du als Jenische im Erziehungsheim gewesen warst, glaubte dir niemand.»
Der beflissene Eugeniker
Ursula Wasers Leben wäre anders verlaufen, wäre da nicht ein Mann gewesen, der die Jenischen im Visier hatte: Alfred Siegfried (1890–1972). Er war Wasers Vormund und gleichzeitig eine Schlüsselfigur bei den Aktionen von «Kinder der Landstrasse». Das zeigen mehrere Forschungsarbeiten.
Siegfried gründete und leitete das «Hilfswerk» bis 1959. Obwohl er pädophil war. Ganz offiziell. Bereits 1924 hatte ihn das Basler Strafgericht wegen «unzüchtiger Handlungen mit einem Schüler» verurteilt. Siegfried war damals Gymnasiallehrer und musste daraufhin den Schuldienst verlassen. Doch das kümmerte Pro Juventute nicht, man übergab ihm sogar die «Abteilung Schulkind». Und liess ihn wüten. Später, in seiner Funktion als «Hilfswerk»-Leiter, beschuldigten ehemalige Mündel ihn des sexuellen Missbrauchs. Die Historikerin Sara Galle schreibt in ihrem Buch «Kindswegnahmen», dass es ihres Wissens nie zu einer Verurteilung kam.
Alfred Siegfried war unantastbar. Und ehrgeizig. Sein Plan: die «Zigeunerkinder» getrennt von ihren Eltern zu «erziehen», um sie sesshaft zu machen. Sie sollten – schrieb er einmal in der «NZZ» – «nicht wiederum zu Vaganten, Trinkern und Dirnen heranwachsen». Siegfried stand zu seinen rassenhygienischen Ideen. «Vagantität» verglich er in seinem Buch «Kinder der Landstrasse» mit einer «Erbkrankheit», die vor allem Frauen weitergeben. Zudem attestierte er darin den Jenischen einen «ausgesprochenen Schwachsinn, eine zum Teil erbbiologisch verursachte, untermittelmässige Intelligenz». Dem wollte er Herr werden. Und liess viele junge Frauen sterilisieren – nach dem Muster nationalsozialistischer Rassentheoretiker.
Sie galt als «Ableger der Vagantität»
Ursula Waser ist sich schon immer bewusst, dass sie eine «Zigeunerin» ist. Doch nicht, wie das ihr Leben beeinflusst hat. Lange glaubt sie, ihre Geschichte sei ein Einzelschicksal. Sie habe eine schlechte Mutter gehabt. Fertig. Bis die Achtzigerjahre kamen, bis sie 37 wird. Die Schweiz arbeitet in jener Zeit das dunkle Kapitel der Pro Juventute auf. Bundesrat Alphons Egli (1924–2016) entschuldigt sich offiziell. Und Waser sieht ihre Akten ein. Sie stösst auf 3500 Seiten Abscheu. «Ein neuer Ableger der Vagantität», schreibt der Vormund über das Baby Ursula wie über Ungeziefer. Als sie sieben ist, hält eine Erzieherin fest: «Sie hat es ausserordentlich auf die Buben abgesehen.» Alles, wirklich alles, was dort stehe, sagt Waser heute, sei menschenverachtend. «Ich war der Tschumpel der Nation.»
In jener Zeit will sie nicht mehr leben. Doch sie macht weiter. Sie will das Unrecht nicht auf sich sitzen lassen und kämpft. Das tut sie nun seit dreissig Jahren. Sie spricht vor Schulklassen und an Veranstaltungen, gibt Interviews und klärt in den sozialen Medien auf. Sie sei heute kein heulendes Elend der Nation, sagt Waser. Was aber bleibt: «Ich bin masslos enttäuscht.»
Das kann ihr niemand mehr nehmen. Aber vielleicht kann die Regierung den Schmerz der Jenischen etwas lindern. Bundesrätin Baume-Schneider lässt über den Pressesprecher ausrichten, dass die Bundesverwaltung die Genozid-Forderung schon eine Weile prüft. Das Resultat werde voraussichtlich im laufenden Jahr vorliegen.