«Wo ist denn hier der Lichtschalter?», fragt Silvia Eyer (38) in der Dunkelheit des Kellergewölbes im Junkerhof. Der Junkerhof ist das Rathaus von Naters VS, der zweitgrössten Gemeinde im Oberwallis.
Eyer kennt noch nicht alle Geheimnisse ihres neuen Arbeitsplatzes, zum Beispiel die Sache mit dem Licht. Das wundert auch nicht, immerhin ist sie erst seit kurzem Gemeinderätin von Naters. Der bisherige Höhepunkt einer Karriere, die vor 20 Jahren wohl niemand für möglich gehalten hätte. Statt um Kommunalpolitik drehte sich im Leben von Silvia Eyer damals alles nur um den nächsten Schuss.
Inzwischen ist das Licht an, Eyer zeigt auf die an der Wand hängenden Familienwappen aus Holz. Jedes Ratsmitglied hat eins, das neuste ist das der Eyers. «Darauf bin ich schon stolz und meine Eltern wohl noch mehr», sagt sie zu Blick.
Mit 13 in die Drogen
Stolz ist Silvia Eyer, weil es lange Zeit danach aussah, als würde es mit ihr ein schlechtes Ende nehmen. Mit 13 Jahren nahm sie das erste Mal Drogen. Sie kiffte, dann kamen Ecstasy und Kokain dazu. Das erste Mal Heroin schnupfte sie auf der Toilette eines Parkhauses, da war sie 14 oder 15 – genau kann sie das heute nicht mehr sagen. «Das Gefühl war unbeschreiblich, einfach alles war schön und gut», sagt Eyer.
Das Heroin half ihr, mit ihrer Reizfilterschwäche klarzukommen. «Das war wohl rückblickend der Grund, warum ich zu Drogen gegriffen habe», glaubt Eyer.
Um sich konzentrieren zu können, müssen andere Umweltreize wie zum Beispiel Geräusche ausgeblendet werden können. Menschen, die an einer Reizfilterschwäche leiden, können dies nicht oder nur begrenzt.
Gerade Kinder lassen sich dann von vielen Dingen ablenken und benötigen für Arbeiten, die Konzentration erfordern, oft Stunden.
Die anhaltende Reizüberflutung führt bei den Betroffenen kurzfristig zu Stress, Hektik, aggressiven Reaktionen und schneller Erschöpfung. Längerfristig drohen dauerhafte Konzentrationsschwächen, Realitätsverlust und Hyperaktivität. (eum)
Um sich konzentrieren zu können, müssen andere Umweltreize wie zum Beispiel Geräusche ausgeblendet werden können. Menschen, die an einer Reizfilterschwäche leiden, können dies nicht oder nur begrenzt.
Gerade Kinder lassen sich dann von vielen Dingen ablenken und benötigen für Arbeiten, die Konzentration erfordern, oft Stunden.
Die anhaltende Reizüberflutung führt bei den Betroffenen kurzfristig zu Stress, Hektik, aggressiven Reaktionen und schneller Erschöpfung. Längerfristig drohen dauerhafte Konzentrationsschwächen, Realitätsverlust und Hyperaktivität. (eum)
Das schöne Gefühl war jedoch trügerisch. «Plötzlich kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal auf Entzug kam und realisierte, dass ich süchtig bin», erinnert sie sich. Es dauerte nicht lange, bis Eyer auch mit dem Gesetz in Konflikt kam. Mit gerade einmal 15 Jahren wurde sie das erste Mal verhaftet. Die Polizisten holten sie direkt aus dem Klassenzimmer der Orientierungsschule. Eyer wurde beschuldigt, in einer Kirche randaliert zu haben, dazu kamen Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz.
U-Haft und Strassenstrich
Drei Tage sass Eyer in U-Haft, dann kam sie wieder frei. Später wurde sie vom Jugendgericht verurteilt. Noch bevor aber das Strafmass bekannt war, wurde sie wieder verhaftet. Am Bahnhof Brig griff man sie mit einem Gramm Heroin auf.
Das Geld für die Drogen beschaffte sich Eyer unterdessen mittels Diebstählen und auf dem Strassenstrich von Bern. «Es liessen sich immer Freier finden, die auf der Suche nach ganz jungen Mädchen waren», sagt sie. Der Preis war aber hoch, die Kinderseele zerbrach beinahe daran. «Es hat viele Jahre gedauert, bis ich wieder echte Intimität empfinden konnte», so die 38-Jährige.
Die Eltern schritten ein. Als ihr Vater sie einmal mehr vom Polizeiposten abholen musste, nahm er sie in den Arm und sagte: «Wir schaffen das!»
Am Tiefpunkt
Zunächst kam Eyer in ein Therapiezentrum im Kanton Appenzell Ausserrhoden, doch der Erfolg blieb aus. Nach zweieinhalb Jahren Therapie war die inzwischen erwachsene Frau in der Drogenszene der Stadt St. Gallen unterwegs. Sie spritzte Heroin, ging auf den Strich, wenn sie keine andere Möglichkeit hatte, um an Geld zu kommen, und wurde wieder verhaftet.
Dann versuchte sie erneut, clean zu werden. «Den Tiefpunkt hatte ich erreicht, als ich meinen Vater für Geld für Drogen angebettelt habe. Ich wusste in diesem Moment, dass mein Leben so nicht weitergehen konnte», sagt sie. Eyer ging wieder in den Entzug, dieses Mal mit Erfolg. Das ist 13 Jahre her.
Ein Freund ihres Vaters gab ihr eine Arbeit als Journalistin bei einer kleinen Regionalzeitung. «Es ist unglaublich wichtig, dass Leute wie ich die Chance erhalten, sich in einem Job zu beweisen», sagt Eyer. Nur so könne man sein Leben wirklich ändern.
Von den Erfahrungen profitieren
Später wurde Eyer Integrationsbeauftragte von zwei Oberwalliser Gemeinden und machte eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Yoga gibt ihr die Kraft, mit ihrer Reizfilterschwäche umzugehen.
2020 erzielte sie bei den Gemeinderatswahlen das zweitbeste Ergebnis auf der Liste der SP. Als im vergangenen Dezember der Amtsinhaber demissionierte, rutschte Eyer in den Gemeinderat nach. Hier ist sie seitdem zuständig für Soziales und die Liegenschaften der Gemeinde. «Gerade im sozialen Bereich kann ich stark von meinen Erfahrungen profitieren: Ich weiss, wie es ist, am Rand der Gesellschaft zu stehen», sagt Eyer.
Mit ihrer Geschichte will sie unterdessen vor allem eins: Mut machen. Eyer: «Ich will zeigen, dass sogar Menschen wie ich es schaffen können, in ein normales und erfolgreiches Leben zurückzufinden.»