Olivier Wasem (55) nimmt die Finken seiner Tochter Grace-Victoria (7) zu sich auf den Schoss. Rosa Stoffschühchen, mit Katzen bedruckt. «Ihre winzigen Füsse», sagt er. Dann bricht seine Stimme, er kann die Tränen nicht zurückhalten.
Vor ihm liegen eine Schulmappe, eine Zeichnung und jene rosaroten Finken, die Grace-Victoria gar nicht mehr passen würden. Sie sind das Letzte, was dem Vater von seiner Tochter geblieben ist.
Mutter verschwand mit dem Kind
Am 28. Februar 2020 verschwindet das Mädchen aus Genf spurlos. Mitgenommen von der Mutter, Wasems Ex-Frau. Seitdem hat sie keiner mehr gesehen, sie gelten als vermisst. «Es ist die schlimmste Folter, nicht zu wissen, wo sie ist – und ob sie überhaupt noch ist», sagt der Vater.
Eigentlich hatten Olivier Wasem und seine Ex-Frau das geteilte Sorgerecht. Im Januar 2020 empfahl der Sozialdienst aber, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen. «Vermutlich ist sie deshalb abgehauen», meint der Vater.
Ein Gericht stützte den Entscheid am 4. März. Aber da war Grace-Victoria schon weg. Der Familienvater macht den Behörden schwere Vorwürfe: «Hätte das Gericht schneller auf die Empfehlung reagiert, wäre mein Kind vielleicht noch da.»
Schwere Vorwürfe an Behörden
Olivier Wasem schlägt sein blaues Tagebuch auf, blättert durch die Seiten. «Ich schreibe meiner Tochter fast jeden Tag. Irgendwie möchte ich mit ihr in Kontakt sein, auch wenn sie nicht antworten kann», sagt er.
Immer wieder hört er, er müsse sich doch keine Sorgen machen. Das Kind sei ja bei seiner Mutter. «Aber genau das ist es ja, was mir Angst macht.» Seine Ex-Frau sei psychisch labil. Unter anderem deshalb entzog das Gericht ihr das Sorgerecht.
Der Familienvater fühlt sich alleingelassen. Die Polizei unternehme zwar ihr Möglichstes. Doch gebe es immer wieder Pannen in der Kommunikation mit anderen Behörden. «Wenn ich nichts tue, dann passiert auch nichts. Man ist komplett auf sich gestellt», kritisiert Wasem. Das Genfer Justizministerium will sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen äussern.
«Ich spüre immer noch ihre Wärme»
Grace-Victoria ist ein zierliches Mädchen mit blonden Haaren. Die blauen Augen hat sie vom Vater. «Sie war ein so kreatives Kind», sagt Wasem und deutet auf eine Kinderzeichnung in der Schulmappe.
Er erinnert sich noch genau an das letzte Mal, als er seine Tochter sah. Das war im Juni 2019. «Ich wartete vor der Schule auf Grace-Victoria. Sie kam auf mich zugerannt und umarmte mich. Wenn ich daran zurückdenke, spüre ich immer noch ihre Wärme.»
Nach Verschwinden blieb nur Chaos
Danach habe die Mutter nicht mehr zugelassen, dass er seine Tochter sehen durfte. Trotz des geteilten Sorgerechts. Olivier Wasem wollte nicht, dass seine Tochter zwischen die Fronten gerät. «Aber ich meldete dem Gericht und dem Sozialdienst, dass die Mutter mir das Besuchsrecht verwehrt», sagt er.
Rechtlich ist die Sache seit dem Gerichtsentscheid Anfang März geklärt. Wasems Ex-Frau ist international zur Fahndung ausgeschrieben. Bisher ohne Erfolg.
Schliesslich kontaktierte er die Organisation Missing Children Switzerland, die einzige Stelle in der Schweiz, an die sich Väter und Mütter von vermissten Kindern wenden können. «Wenn dein Kind verschwindet, bleibt nur Chaos zurück. Als normaler Bürger kommst du nicht weit, weil du gar nicht weisst, was zu tun ist», sagt Wasem.
«Die Schweiz tut sich schwer»
Nach eigenen Angaben betreut Missing Children hierzulande aktuell 45 solcher Fälle von vermissten Kindern. Die Zusammenarbeit mit den Behörden sei gut, sagt Lucie Zinetti, Sprecherin der Organisation. Aber: «Die Schweiz tut sich schwer, Strukturen zu schaffen und umzusetzen, die Angehörige von vermissten Kindern unterstützen würden.»
Sich der Verzweiflung hinzugeben, kam für Olivier Wasem trotz allem nie in Frage. Sein grösster Antrieb ist und bleibt die Hoffnung: «Ich muss stark bleiben. Wenn Grace-Victoria zurückkommt, will ich, dass sie einen glücklichen Papi vorfindet – keinen gebrochenen.»