Genf, Böhmermann, Reporter und ein ganzes Orchester
Die lange Klageliste von Erdogan

Seit der Schliessung des Flüchtlingsdeals mit der EU gebärdet sich der Türken-Präsident wie ein Sultan.
Publiziert: 26.04.2016 um 12:57 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 04:59 Uhr
Gregory Remez

Erdogans Zensur-Wahn erreicht die Schweiz. Nach Böhmermanns Schmähgedicht soll nun ein in Genf aufgestelltes Foto verschwinden. Das Bild zeigt ein Transparent, auf welchem der damalige Premierminister Erdogan für den Tod eines Jugendlichen bei einer Demo in Istanbul verantwortlich gemacht wird. «Ich heisse Berkin Elvan, die Polizei hat mich auf Geheiss des türkischen Ministerpräsidenten getötet», steht auf dem Banner. 

Duldet keine Kritik: Recep Tayyip Erdogan (62).
Foto: KEYSTONE/AP/BURHAN OZBILICI

Das türkische Konsulat verlangte gestern die unverzügliche Entfernung des Bildes – und sorgte damit in ganz Europa für Schlagzeilen. Genf will sich heute Nachmittag mit dem Gesuch befassen, Stadtrat und CVP-Nationalrat Guillaume Barazzone hat den Entscheid aber schon vorweggenommen: «Die Stadt lässt sich von keinem Land einschüchtern. Zensur kommt für uns nicht in Frage. Das Foto bleibt», sagte er zu BLICK.

Flüchtlings-Deal als Hebel

Zu Hause tritt Recep Tayyip Erdogan die Presse- und Meinungsfreiheit längst mit Füssen, wie seine Kritiker monieren. Erst gestern wurde der Chefredaktor der Zeitung «Cumhuriyet», Can Dünar, wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts zu einer Geldstrafe von umgerechnet 10'000 Franken verurteilt.

Und seit der Schliessung des Flüchtlingsdeals mit der EU scheint sich der türkische Präsident auch im Ausland immer selbstherrlicher zu gebärden. Satiriker Jan Böhmermann und die Stadt Genf sind bei weitem nicht die Einzigen, die den Zorn des Sultans zu spüren bekommen. Wegen des Schmähgedichts hat etwa auch die Boulevard-Zeitung «Österreich» eine Klage am Hals – weil sie dieses abdruckte. Die Beschwerde wurde vom europäischen Arm der Erdogan-Partei AKP eingereicht.

Einreiseverbot für Journalisten

Gleich mehreren Journalisten wurde in den vergangenen Tagen die Einreise in die Türkei verwehrt. Kurz nach dem Besuch von Kanzlerin Angela Merkel in einem türkischen Flüchtlingslager wurde am Samstag «Bild»-Fotoreporter Giorgos Moutafis an der Grenze abgewiesen.

Ähnlich war es zuvor ARD-Reporter Volker Schwenck ergangen. Gestern twitterte zudem US-Journalist David Lepeska, dass auch er an der Einreise in die Türkei gehindert worden sei. Die niederländische Kolumnistin Ebru Umar wird trotz Haftentlassung noch immer festgehalten. Die Gründe für das rigide Vorgehen nannten die Behörden den Betroffenen nicht. Offenbar führt die Türkei aber eine schwarze Liste mit Journalistennamen.

Zensur der Geschichte

Unter Erdogans Zensur-Klauen geriet am Wochenende ausserdem ein Sinfonieorchester aus Dresden, das in einem Konzert den Massenmord an den Armeniern thematisiert. Mit einer Beschwerde bei der EU-Kommission erwirkten die türkischen Behörden die Streichung mehrerer Textpassagen. Ausserdem darf das Orchester das Wort «Genozid» nicht mehr verwenden.

Offenbar reicht es der Regierung in Ankara nicht, den Schwarzstift in der Gegenwart anzusetzen. Sie will auch die Geschichte umschreiben.

Aleviten diskriminiert

Eine Niederlage fuhr die türkische Führung hingegen am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein. Dieser entschied heute, dass die Türkei die Religionsfreiheit der rund 20 Millionen im Land lebenden Aleviten verletze. Die Aleviten würden ohne objektive und einsichtige Rechtfertigung anders behandelt als die Mehrheit der sunnitischen Muslime, so das Urteil der Strassburger Richter.

Damit hatte eine Beschwerde von mehr als 200 Aleviten Erfolg. Sie wollen unter anderem erreichen, dass ihre Gebetshäuser und Gottesdienste offiziell anerkannt werden. Die Regierung in Ankara hatte ein entsprechendes Gesuch der liberal-islamischen Religionsgemeinschaft 2005 zurückgewiesen.

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«Wir brauchen eine islamische Verfassung»

Parlamentspräsident Ismail Kahraman hat eine islamische Verfassung für die Türkei gefordert. «Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben», sagte das Mitglied der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Säkularismus dürfe in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen, sagte er laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Anadolu am Montag bei einer Konferenz in Istanbul. Der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, widersprach vehement. Der vom Staatsgründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk eingeführte Säkularismus sei wichtig, damit jeder frei seine Religion ausüben könne, teilte Kilicdaroglu über den Internet-Kurzbotschaftendienst Twitter mit. AKP-Chef und Präsident Recep Tayyip Erdogan plant bereits seit längerem eine Änderung der Verfassung. Zwar hat die AKP im Parlament die absolute Mehrheit, dennoch fehlt ihr die für eine Änderung der Verfassung erforderliche Mehrheit. Die Oppositionsparteien lehnen das von Erdogan vorgeschlagene Präsidialsystem ab, sie werfen ihm schon jetzt ein Abgleiten in eine autoritäre Herrschaft vor. (SDA)

Parlamentspräsident Ismail Kahraman hat eine islamische Verfassung für die Türkei gefordert. «Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben», sagte das Mitglied der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Säkularismus dürfe in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen, sagte er laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Anadolu am Montag bei einer Konferenz in Istanbul. Der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, widersprach vehement. Der vom Staatsgründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk eingeführte Säkularismus sei wichtig, damit jeder frei seine Religion ausüben könne, teilte Kilicdaroglu über den Internet-Kurzbotschaftendienst Twitter mit. AKP-Chef und Präsident Recep Tayyip Erdogan plant bereits seit längerem eine Änderung der Verfassung. Zwar hat die AKP im Parlament die absolute Mehrheit, dennoch fehlt ihr die für eine Änderung der Verfassung erforderliche Mehrheit. Die Oppositionsparteien lehnen das von Erdogan vorgeschlagene Präsidialsystem ab, sie werfen ihm schon jetzt ein Abgleiten in eine autoritäre Herrschaft vor. (SDA)

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