Patricia Danzi (53) sitzt in einem schwarzen SUV, die Scheiben verdunkelt, das ganze Auto kugelsicher. Bewaffnete, vermummte Männer auf Motorrädern sichern das Gelände, bahnen den Weg durch die überfüllten Strassen. Als die Kolonne kurz stoppt, reicht einer von ihnen ein Sturmgewehr in den Wagen vor Danzi.
Es ist Mitte April in Haiti. Ein ganz normaler Tag in Port-au-Prince. Ziegen fressen sich durch Müllhaufen am Strassenrand, Menschengruppen zwängen sich in bunt bemalte Busse, und irgendwo verkündet die «Mutter Gottes» von einem Plakat herunter: «Tout est possible.» Der Sicherheitsmann der Schweizer Botschaft erklärt im Auto, dass Gangs jeden Tag unbescholtene Bürger direkt von der Strasse weg entführen. Willkürlich. Sie haben sich in den letzten Jahren in der Stadt eingenistet, kontrollieren nun ganze Stadtteile und töten, wenn die Familien das Lösegeld nicht aufbringen können. Das Schweizer Aussendepartement (EDA) rät von Reisen in das Land ab.
Patricia Danzi aber ist gekommen. Sie sagt: «Lähmende Angst kenne ich nicht.» Sie sass schon in einem Flugzeug, das Feuer fing, weil die Wartungsmannschaft einen Lappen im Motor vergessen hatte. Menschen reagierten ganz unterschiedlich in solchen Situationen. Danzi sagt: «Ich werde ruhig.»
Seit zwei Jahren im Job
Wer ist diese Frau, die von der linken «Wochenzeitung» für ihre «Kompetenz und ihr entwicklungspolitisches Gespür» gefeiert wird und von der selbst SVP-Hardliner Roger Köppel schreibt, sie sei «faszinierend»?
Auf dem Papier ist Danzi Folgendes: 1996 wird sie 23. im Siebenkampf an den Olympischen Sommerspielen in Atlanta. Sie spricht Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Serbokroatisch. Hat zwei Söhne. Und ist seit zwei Jahren die erste Frau an der Spitze der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Die erste Frau mit afrikanischen Wurzeln, ihr Vater stammt aus Nigeria.
Diese Frau hat eine schwierige Mission: Sie muss eine der grössten Neuausrichtungen der Schweizer Auslandshilfe durchsetzen.
Lange war die Deza eine Insel im EDA, mit eigenem Büro-Netz, eigenem Budget, viel Geld, viel Autonomie. Der Umbau begann unter Aussenminister Didier Burkhalter: Die Deza wurde stärker ans Aussendepartement gebunden, diplomatische Vertretungen und Deza-Büros zusammengelegt – die Entwicklungshilfe an die kurze Leine genommen. Aussenminister Ignazio Cassis trieb das weiter voran, leitete den Rückzug aus Lateinamerika und der Karibik ein. Diese Länder seien nicht mehr so stark von Armut betroffen, hiess es. Die neue Strategie: Man fokussiert auf weniger Weltregionen und richtet die Entwicklungshilfe mehr an den Interessen der Schweiz aus. Besonders in Migrationsfragen. Man will helfen, damit weniger kommen.
Sie fokussiert auf das Gute
Haiti passt nicht mehr ins Konzept. Deshalb ist Danzi hier. Die Schweiz stellt die Entwicklungszusammenarbeit, die langfristigen Projekte, die die Strukturen in einem Land verändern sollen, bis Ende 2024 ein. Und führt nur noch die humanitäre Hilfe weiter – den Wiederaufbau nach Katastrophen, die schnelle, akute Hilfe in Not.
Eigentlich ist klar: Das ist eine schlechte Botschaft für das Land. So schreibt es der Blick in der Woche ihres Besuchs. Doch Danzi sieht es anders, reagiert in einem E-Mail enttäuscht, leider würden die Medien wieder einmal auf das Negative fokussieren, ihre Nachricht an den haitianischen Interims-Regierungschef sei eine gute: «Bis anhin mussten Sie annehmen, die Schweiz würde sich ganz aus Haiti zurückziehen.»
Danzi fokussiert auf das Gute. Das zeigt sich auch in einem tragischen Vorfall, der sich während der Dienstreise abspielt. Am 20. April stürzt ein Kleinflugzeug kurz nach dem Start in Port-au-Prince ab und landet auf einem Lastwagen. Mindestens sechs Menschen sterben. Der Pilot überlebt. Mit ihm wäre Danzi am Tag darauf vom Süden zurück in die Hauptstadt geflogen. Nun nimmt sie einen Linienflug. Ohne mulmiges Gefühl im Magen. Der Unfall mache sie betroffen, sagt sie am Vorabend. «Doch jetzt sind alle Wartungsteams alarmiert und checken die Maschinen auf Herz und Lunge durch.»
Vielleicht beginnt man, das Schlechte auszublenden, wenn man viel Leid gesehen hat. Vielleicht ist das die einzige Strategie, um weitermachen zu können: unerschütterlicher Optimismus.
25 Jahre lang arbeitete Patricia Danzi beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), in Ländern wie im ehemaligen Jugoslawien, Sudan, Kongo oder Afghanistan. Lange als Delegierte, zuletzt als Regionalchefin für Afrika, verantwortlich für 7700 Angestellte. Flucht, Hunger, Umweltkatastrophen – Menschen in Not waren ihr Alltag, humanitäre Hilfe ihr Job.
Zwischen zwei Terminen setzt sich die Deza-Chefin in einen Ratan-Sessel auf der Terrasse eines der letzten Viersternehotels der Stadt. «Nigeria», sagt sie. «Das war schlimm.» Ausgerechnet in ihrer zweiten Heimat überfielen die Männer der Terrorgruppe Boko Haram eine Militärbasis und entführten zwei IKRK-Krankenschwestern. Sie war Afrika-Chefin, tat zusammen mit ihrem Team wochenlang das, was sie zuvor schon oft tun musste: alles, um ihre Kolleginnen freizubekommen. Erfolglos. «Im Abstand von dreissig Tagen brachten sie die Frauen ganz brutal um», sagt sie, während im Hintergrund NGO-Leute in kurzen Hosen durch den Hotelgarten joggen.
Haiti kommt nicht zur Ruhe
Fürs IKRK war sie mehrmals in Haiti, zuletzt vor rund neun Jahren. Wenn sie jetzt auf der Fahrt zu ihren Meetings aus dem Fenster blickt, spürt sie «eine gewisse Ruhe. Davor fühlte man sich wie im Krieg». Auch wegen der bewaffneten, uniformierten «United Nations Peacekeeping Forces» – Uno-Blauhelme –, die bis vor wenigen Jahren auf den Strassen zu sehen waren.
Der Karibikstaat kommt seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe, wegen Gewaltausbrüchen, Erdbeben, Unwettern, steigenden Nahrungsmittel- und Benzinpreisen, politischen Krisen mit ständig wechselnden Ministern – der Mord am Präsidenten im letzten Jahr ist noch immer nicht aufgeklärt. Die Katastrophen wechseln, die Opfer bleiben: die Haitianer und Haitianerinnen. Sie rappeln sich immer wieder auf. Wie, zeigt ein Besuch im Süden.
Am Tag nach ihrer Ankunft bringt ein Helikopter des Uno-Welternährungsprogramms Danzi nach Port-Salut – wegen der Gangs kommt man mit dem Auto nicht mehr aus der Hauptstadt raus. Unter dem Stahl-Vogel breiten sich Reisfelder, Mango-, Bananen-, Papayabäume und Strände wie aus dem Tui-Katalog aus. Alles wirkt so, als wären das «tremblement de terre» – Erdbeben – und der «ouragan» – Wirbelsturm – letztes Jahr nur ein böser Traum gewesen. Doch über 2000 Menschen starben, über 10'000 wurden verletzt, unzählige Familien verloren ihre Häuser, ihre Existenz.
Andere hatten Glück. Sie leben in einem der über 300 neuen Wohnhäuser oder kamen in einem der neuen Gemeinde-Zivilschutzanlagen unter, in jenen sturm- und erdbebensicheren Gebäude also, die die Deza-Leute zusammen mit der Bevölkerung entwickelt und gebaut haben. Maurer und Zimmerleute, die sie zusammen mit NGOs ausbilden, werden nun die Arbeit fortführen. In einem Berufsbildungszentrum stehen junge Männer mit vom Zement gepuderten Schuhen im Hinterhof, klatschen Mörtel auf Steine, als die wichtige Frau aus der fernen Schweiz kommt und vor allem eines tut: Fragen stellen – und zuhören.
Sie will gestalten
«Arrogance is the mother of all fuck-ups» – Arroganz ist der Ursprung aller Fehlschläge. So hielt sie es schon beim IKRK. Das weiss Jürg Kesselring, Mitglied des IKRK-Komitees. Er erlebte, wie sie als Afrika-Chefin Rechenschaft über Aktionen ihres Teams ablegte, sagt: «Sie konnte zugeben, dass man manche Probleme nicht lösen kann. Ohne zu beschönigen.»
Der Schweizer Rückzug aus Lateinamerika und der Karibik ist umstritten. NGOs wie die Helvetas kritisieren, dass die Armut noch immer gross ist, die Länder fragil sind. Die Sorge: Die Hilfe kommt nicht mehr dort an, wo sie gebraucht wird.
Danzi sagt: «Die Schweiz mit ihren Möglichkeiten lässt Menschen in Not nicht im Stich.» In einer Krisensituation, auch in Haiti, könne die Deza jederzeit eingreifen und extra Mittel für die humanitäre Hilfe beantragen. Sie sieht in der Schweizer Auslandshilfe vor allem eines: viel Potenzial. Der Druck der grossen, globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Gesundheitskrisen, Jugendarbeitslosigkeit nehme zu. Beim IKRK sei sie bei der Lösung dieser Probleme an Grenzen gestossen. Mit einem Staat wie der Schweiz im Rücken sei mehr möglich: mehr Geld, mehr Expertise und eine Maschinerie, die Hilfe im XL-Format in Gang setzen kann. «Man kann gross denken.»
Die Leute vor Ort «im Feld» schlagen vor, Danzi segnet ab, welche Programme in welchen Ländern wie viel Geld erhalten. Ihr Budget: rund 2,5 Milliarden Franken. «Als ich anfangs die Papiere mit den hohen Beträgen sah, die manchmal über meinen Tisch gehen, erschrak ich ein bisschen», sagt sie, ein buntes Stück Stoff um den Kopf gewickelt, vor sich ein rutschiger Lehmhang, den sie so locker hinunter spaziert, als wärs ein Asphaltweg.
Ständig auf der Hut
Früher pushte sich die ehemalige Siebenkämpferin im Startblock von null auf hundert, jetzt arbeitet sie in Haiti Meeting um Meeting ab. Mit Ministern, Botschaftern, NGO-Leuten, lokalen Journalisten. Wie man mit ihnen umgeht, hat sie früh mitbekommen. Die Mutter war Sek-Lehrerin in Zug und in der Flüchtlingshilfe aktiv, der Vater Diplomat. Sie sagt: «Das Verhandeln und Einflussnehmen auf Menschen habe ich vom Vater, das Hilfeleisten von meiner Mutter.»
Noch etwas wirkt in ihr nach. Das zeigt sich auf der Heimreise, in der Dominikanischen Republik, kurz vor Abflug nach Madrid. In der Warteschlange der Economy-Klasse, umgeben von braun gebrannten Europäern in Badelatschen, sagt sie: «Vielleicht ist es das Nigerianische in mir. Man ist immer ‹on alert›.» Auf der Hut. Stimmungen in einem Raum erfassen, den Zeitpunkt, wenn sie kippen – das tue sie automatisch, egal ob hier am Flughafen oder in einem Flüchtlingscamp auf dem Balkan.
Schon als kleines Mädchen verkroch sie sich oft unter dem Esstisch, lauschte, beobachtete. Wenn die Erwachsenen oben miteinander diskutierten, habe sie unten immer geschaut, was mit den Beinen, den Füssen, den Stimmen passiere. «So lernte ich, wie sich jemand bewegt und klingt, wenn er unter Druck kommt oder es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.»
Und dann bewegt sich die Menschenschlange, die hohe Schweizer Funktionärin verschwindet im Bauch der A319, in der Anonymität der Masse. Acht Stunden Flug hat sie vor sich. Was sie tun wird: arbeiten. Die Deza-Chefin kennt es nicht anders. Es gibt immer viel zu tun. Drei Wochen später ein E-Mail: «Bin gerade zwischen Chisinau, Skopje und Tirana.»
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