«Der Weisse Turm wird das höchste 3D-Gebäude der Welt»
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Weltrekord in Graubünden:«Der Weisse Turm wird das höchste 3D-Gebäude der Welt»

Weltrekord mit 3D-Druck
Ein grosser Turm soll das kleinste Dorf Graubündens retten

Im kleinen Mulegns GR entsteht gerade der grösste 3D-gedruckte Turm der Welt. Eine Kulturstiftung will damit Touristen in den Ort bringen. Und ihn retten. Einfach ist das nicht.
Publiziert: 28.09.2024 um 16:38 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2024 um 16:57 Uhr
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Mulegns GR kämpft mit Abwanderung und Verfall. Die Kulturstiftung Origen kauft nun alte Bauten auf, renoviert sie und erweckt sie zu neuem Leben.
Foto: Thomas Meier
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Die Mittagssonne hängt wie ein lodernder Strohball über den Häusern in Mulegns GR, verteilt ihre Hitze über das Tal und seine Hänge. Die Kühe stehen stoisch still bei der Tränke, schütteln nur ab und zu ihre Grinde – lästige Fliegen. An diesem Tag im vergangenen Juli kann Giovanni Netzer (56) nicht einmal an eine Pause denken. Er muss gehen. Immer weiter. Sonst steht hier alles still. Der Stiftungsleiter und Theatermacher schreitet zügig der Hauptstrasse entlang. Hinter ihm her trottet ein Grüppli von älteren Frauen und Männern mit Rucksack und hochgezogenen Socken. Sie nehmen an seiner Führung teil, weil sie mehr darüber erfahren wollen, was sich hinter dem Baugerüst und den Blachen mitten im Dorf verbirgt. Die ersten kalkfarbenen Säulen des Turms schimmern durch – «Tor Alva» auf Romanisch («Weisser Turm»). Netzer stellt sich vor das Gerüst, das ihn wie einen Zwerg erscheinen lässt, und sagt: «Der Turm ist ein grosses Experiment.»

Ein Weltrekord. Nichts weniger hat Giovanni Netzer mit dem Turm vor. Ausgerechnet in diesem 13-Seelen-Dorf, dem kleinsten Graubündens. 30 Meter hoch soll er werden. 300 Tonnen schwer. Aus 32 Betonsäulen zusammengebaut. Mit Kosten von rund 4 Millionen Franken. Im Frühling fertigte der Roboterarm des 3D-Druckers an der ETH Zürich die Säulenelemente. Ein solcher Turm mit dieser Höhe ist weltweit einzigartig. Aber auch anspruchsvoll.

Der Theatermacher: Giovanni Netzer.
Foto: Thomas Meier

Giovanni Netzer führt die Gruppe auf die Baustelle. In das ausgehöhlte Häuschen, auf das der Turm gebaut wird und wo es an diesem Tag nach frischem Beton riecht. «Ins Kühle», sagt er, seine Stimme hallt bis zu den Säulen hoch, die auf der Etage über ihren Köpfen schon verbaut sind. Weisse Turnschuhe, helles Leinenhemd, eine schlichte Brille – alles an diesem Mann ist unauffällig. Nichts daran verrät, dass er Dinge denkt und tut, die sich sonst kein anderer im Kanton traut.

Er wagt etwas

Netzer leitet die Stiftung Origen und hat mit ihr viel an Kunst und Kultur in die Bündner Bergorte gebracht. Und sie aufgewertet. Das brachte der Organisation 2018 den Wakkerpreis ein, mit dem der Heimatschutz besonders gute Baukultur auszeichnet. Unter den bekanntesten Projekten ist der rote Turm, den alt Bundesrat Alain Berset 2017 eröffnete. Der zehneckige Holzbau stand auf dem kargen Julierpass, namhafte Tanz- und Theaterhäuser bespielten ihn. Ähnliches plant Netzer für Mulegns. Doch geht es diesmal um mehr: Er will die frühere Grandezza des Orts wieder aufleben lassen. Und das nachhaltig. Mulegns war im vorletzten Jahrhundert ein Tourismus-Hotspot. 

Nun also der Weisse Turm. Mit den gewundenen Säulen, die aufeinander zu und wieder auseinander laufen, wirkt er wie der moderne, kleine Bruder von Antoni Gaudís Sagrada Família in Barcelona (Spanien). Und das sagt viel über seinen Charakter. Ungestüm ist dieser. Netzer runzelt die Stirn, wenn er über die Bauarbeiten spricht: «Wir betreten Neuland.» Auf der ganzen Welt gibt es keine Referenz dafür, keine Erfahrungswerte, nichts, woran er und die Bauleute sich festhalten können.

Eine Passantin vor dem Weissen Turm in Mulegns.
Foto: Thomas Meier

Mehrmals musste er die Eröffnung verschieben. Unverhofft stiessen die Bauleute auf Asbest im Boden. Die Handwerker, die die Säulen in Savognin GR zusammensetzen und in Mulegns aufbauen, schwitzen, weil es so schwierig ist, die langen und filigranen Elemente unbeschadet zu transportieren und montieren. Und bald kommen Schnee und tiefe Temperaturen. Noch weiss man nicht, wie das Material darauf reagiert. Ein neuer Einweihungstermin ist geplant: Frühling 2025. Ab dann kann man auf dem fertigen Turm den Ausblick auf die schroffen Steilhänge geniessen, an denen die Gämse weiden und unbekümmert ins Tal lugen. Oder auf einer der oberen Etagen ein Theaterstück, eine Kunstausstellung, ein Konzert. Nach fünf Jahren soll der Bau woanders hinkommen, aus baurechtlichen Gründen, der Standort ist noch offen.

Zeit ist knapp bei Giovanni Netzer. Sein Kalender ist voll. Die Mails und Anrufe der Journalistin gehen unter, weil er von Termin zu Termin hetzt. Doch für die Führungen im Juli schafft er Platz. So erreicht er das Volk. Die Mulegnser Gemeindeversammlung stimmte dem Projekt mit einer Zweidrittelmehrheit zu. Einzelne waren nicht einverstanden, wie sie Medienleuten sagten. Nun steht Netzer im Rohbau und beantwortet geduldig alle Fragen, erklärt jedes Detail. So auch später im Gespräch mit der Journalistin.

Jetzt hoffen die Einheimischen wieder

In Mulegns geht es um mehr als um den Turm. Vielleicht ist er der letzte Strohhalm für das Dorf.

In Mulegns bröckeln Mauern, hängen Fensterläden schief im Wind, etliche Häuser sind verlassen. Sie schmiegen sich an die einzige Strasse, die das Dorf mit dem restlichen Kanton verbindet, und die über den Julierpass ins mondäne St. Moritz führt. Mulegns ist die vernachlässigte kleine Stiefschwester, man kennt sie vom Vorbeifahren. Lange bremsten die Autos und Lastwagen nur ab, wenn ihre Insassen eine Pinkelpause brauchten. Oder, weil sie sonst in der engen Kurve zwischen Weisser Villa und Rotem Haus – wie die Einheimischen die Gebäude nennen – hängen blieben. Bis vor kurzem; die Stiftung Origen hat die Villa in einer Grossaktion von der Strasse wegschieben lassen. 

Margrit (75) und Adolf Poltera (79) sehen ihn jeden Tag, den Verfall. Adolf Poltera wuchs in Mulegns auf und war 36 Jahre lang Gemeindepräsident, Margrit Poltera zog seinetwegen aus St. Moritz hierher. Die Eheleute sind an Netzers Führung gekommen. Sie haben sich schön gemacht, er mit einem Gilet über dem frisch gebügelten Hemd, sie mit einer Perlenkette um den Hals. Mit unter dem Arm eingeklemmter Handtasche steht Margrit Poltera nun neben der Strasse und blickt Richtung St. Moritz, sie sagt: «Immer wenn ich die schönen, teuren Autos herunterfahren sehe, denke ich: Hoffentlich halten sie an.»

Margrit und Adolf Poltera in Mulegns. Im Hintergrund der Turm.
Foto: Thomas Meier

Adolf Poltera trat 1979 sein Amt an. 80 Einwohner zählte das Dorf. Die Kirchenbänke waren voll, so wie die Schule, die längst verschwunden ist. «Bei uns wohnten einige Familien», sagt er. Heute ist nur noch ein Kind übrig. Er schüttelt ungläubig den Kopf. «Plötzlich sind alle verschwunden.» Zauberei war das nicht. Die Menschen fanden keine Arbeit. Auch seine beiden erwachsenen Söhne sind längst nach St. Moritz und Zürich gezogen. Geblieben sind die Eheleute, obwohl beide auswärts arbeiteten, sie als Bankangestellte und er als Aussendienstangestellter in der Hotellerie. Margrit Poltera sagt: «Ich hätte den Adolf nie von hier fortgebracht, an einem anderen Ort macht er kein Auge zu.» 

Die Hoffnung der beiden ruht auf der Stiftung Origen. Auf Netzer. Allein die Verschiebung der Weissen Villa ist ein Segen. Vorher stauten sich dort die Autos. Als Gemeindepräsident kämpfte Adolf Poltera lange erfolglos für eine Lösung. Jetzt ist er nicht mehr alleine. Er sagt: «Giovanni reisst sich ein Bein aus für das Dorf.»

Feine Damen und Herren machten Halt

Giovanni Netzer sorgt sich um Mulegns. Um das ganze Sursestal, das seit Jahren seine Bewohner verliert. Er wuchs in Savognin auf, studierte in München (D) Theater, kehrte nach zehn Jahren zurück. Hier kann er mehr bewegen als in den Städten, wo schon alles bewegt ist. Er kann einen Unterschied machen. Das will er, man merkt es ihm an. Im Gespräch mit der Journalistin wirkt er anfangs unaufdringlich, redet leise, seine Hände ruhen im Schoss. Spricht er über seine Projekte, geht ein Ruck durch seinen Körper, er lehnt sich nach vorne, seine Finger formen Kugeln, ziehen Linien in der Luft. Sätze wie diese fallen: «Wir wollen Mulegns wieder Leben einhauchen.» Oder: «Wir wollen Touristen in den Ort holen.» Arbeitsplätze. Neue Perspektiven für das ganze Tal. Auch das soll eine kulturelle Institution wie die seine leisten – nicht nur schöne Kulturveranstaltungen.

Das Post Hotel Löwe im Jahr 1896.
Foto: Romedo Guler

Den ersten Schritt in Mulegns hat die Stiftung Origen 2019 mit dem Post Hotel Löwe getan. Sie hat den einstigen Prunkbau aus dem Jahr 1830, der aussah, als hätte er sich erschöpft zur letzten Ruhe gelegt, gekauft, aufwändig renoviert und vor kurzem eröffnet. Auf der Terrasse sind an diesem Tag alle Tische besetzt. Frauen mit Designer-Handtaschen sitzen neben Paaren in Wanderschuhen, trinken ein Glas Weisswein oder ein Panaché und warten auf das Apéro-Plättli. Ferienstimmung unter der Woche.

Die Stiftung knüpft an das alte Erbe an. Das kleine Mulegns war einmal ganz gross. Ein Treiber des Bündner Tourismus. Der Löwe war das Herzstück einer Posthalterstation mit Pferdeställen, Kutschenremisen, Fuhrhalterei und zwei Schmieden. Jeden Tag stiegen hier auf dem Weg nach St. Moritz Reisende aus aller Welt aus den Kutschen. Berühmte Leute wie der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923), der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer (1875–1965) oder König Charles’ Urgrossmutter, Mary von Teck (1867–1953), mit ihrer Entourage. In den Stallungen wechselten sie die Pferdegespanne und feierten Champagnerfeste im grossen Hotelsaal. Wegen der reisefreudigen Engländer baute man sogar einen Tennisplatz und ein Cricketfeld. All das schwemmte Arbeit ins Dorf. Und Einwohner. 150 waren es um 1900.

König Charles' Urgrossmutter: Mary von Teck.
Foto: zvg

Doch dann kam die Eisenbahn. 1903 eröffnete der Kanton die Albula-Linie. Die feinen Herrschaften reisten fortan lieber mit der Rhätischen Bahn ins Oberengadin. Das Sursestal liessen sie links liegen. Das Dorf darbte und dorrte allmählich aus.

Netzer will das ändern. Seine Expertise hilft ihm. Als Theatermacher weiss er, was eine gute Geschichte ist. Wie er sie erzählen muss. Er baut auf dem auf, was schon da ist. Giovanni Netzer sagt es so: «Wir in der Schweiz sind es uns gewohnt, Graubünden und die Alpen als idyllische Kulisse zu sehen, wo die Bauern zu den Kühen schauen und Heidi über die Steilhänge springt. Es gibt aber noch eine andere Realität: die Vergangenheit. Sie ist gleichzeitig traurig und leuchtend.»

Vor 200 Jahren schickten verarmte Bündner Bauernfamilien ihre Kinder in die Fremde. Oft waren es Buben ab zwölf Jahren, die zu Fuss oder mit Pferd loszogen. In den europäischen Grossstädten lernten viele das Zuckerbäcker-Handwerk. Einige machten sich selbständig und wurden reich. Doch sie vergassen ihre Heimat nie. Litten unter dem, was als «Malancuneia» in romanische Literatur und Liedgut eingegangen ist – die Melancholie in der Fremde. Sie kehrten in ihre Heimatdörfer zurück. Und brachten moderne Baukunst mit, Palazzi. So auch der Zuckerbäcker Jean Jegher (1799–1867), der aus Bordeaux (F) heimkehrte und 1856 die Weisse Villa baute.

Auch Netzer ist ein Rückkehrer. Ein Heimwehbündner. Vielleicht baut er ihnen auch deshalb mit dem Weissen Turm optisch ein Denkmal: ein gigantisches Zuckerbäckerwerk aus dem Spritzsack. Netzer weiss, wie viel Kraft es braucht, um neue Ideen an einem alten Ort zu verwirklichen.

Im Dorf gibt es auch Kritiker

Die Gruppe wartet im Schatten der Weissen Villa. Gleich führt Netzer sie in den alten Palazzo mit den hohen Räumen, wo die Tapeten von den Wänden blättern. Auch die Villa ist Teil seines Mulegns-Rettungsplans, bald wird sie renoviert und mit einem Café sowie einer Bäckerei ausgestattet. Drei ältere Frauen beginnen ein Gespräch. «Früher war der Löwe ein trauriger Anblick, heute glänzt er», sagt Margrit Poltera. «Jetzt redet man endlich wieder über Mulegns», sagt die Unterländerin mit rotem Lippenstift. «Ich hoffe für Herrn Netzer, dass alles klappt», sagt die Unterländerin in der luftigen Tunika.

Der Mann hat sich viel aufgeladen. Er muss jetzt das mit der Dorfrettung beweisen. Alles zum Laufen bringen. Das kostet. Die Projekte sind millionenschwer. Nur dank Schenkungen und Spenden von Privaten und Stiftungen kann er sie stemmen. Ein Knochenjob. Und dann sind auch noch einzelne Kritiker aus dem Dorf, die immer gleichen, sie rufen in den Medien aus: Zu viel Geld fliesse ins aussterbende Mulegns, zu gross seien Netzers Träume für den kleinen Ort. Der Druck ist gross. Giovanni Netzer weiss das. Doch was ist die Alternative, fragt er. «Sollen wir einfach die Flügel hängen lassen und zuschauen, wie Mulegns zugrunde geht?»

Margrit Poltera zieht ob der Kritik die Augenbrauen hoch. Sie sagt: «Das ist der Neid.» Sie alle könnten doch froh sein, dass sich jemand für sie interessiere und ihnen «so viel Schönes» bringe. «Der Weisse Turm ist eine Attraktion.»

Im Juli montierten die Handwerker die ersten Säulen.
Foto: keystone-sda.ch

Die Führung ist fertig. Die Polteras haben im Löwen einen Tisch ergattert. Lange mussten sie immer ins Postauto steigen, um anderswo unter Menschen zu kommen. Jetzt herrscht Vollbetrieb. Bis die Servicefachfrau zu ihnen kommt, dauert es etwas. Den beiden fällt es nicht auf, sie sind mit Schauen beschäftigt. Margrit Poltera sagt: «Endlich lebt es hier wieder.» Endlich geht etwas. So wie vorige Woche, als die Handwerker die ersten Säulen verbauten. Der Kran hob Stück um Stück in die Luft. Ein seltenes Spektakel. Die Eheleute standen daneben und sahen zu. Den ganzen Tag. Adolf Poltera sagt: «Wir wollten nichts verpassen.»

Später, vor dem Hotel, stellt sich ihnen ein Mann mit Sonnenhut und Wanderstock in den Weg. «Entschuldigen Sie», sagt er auf Hochdeutsch und wirkt, als suchte er nach dem Weg. Doch er will Auskunft zum Turm. Beide treten sofort näher und klären ihn auf. In der Art, wie sie das tun, ernst und selbstsicher, schwingt Stolz mit. Zum ersten Mal seit langem geschieht etwas Grosses im Dorf, und die Eheleute Poltera sind Teil davon.

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