Was ist in diesem Herbst anders? Epidemiologe erklärt
Darum sinken die Corona-Zahlen so stark

Die Corona-Fälle sind in den letzten Wochen gesunken. Infektiologe Huldrych Günthard erklärt, was anders ist. Viele Fragen in Bezug auf die Krankheit seien noch unbeantwortet. Vor allem Long Covid und die Übersterblichkeit sind auch für Experten ein Rätsel.
Publiziert: 03.11.2022 um 17:26 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2022 um 13:01 Uhr
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Huldrych Günthard ist Infektiologe am Universitätsspital Zürich.
Foto: USZ
Jenny Wagner

Diese Saison ist alles anders. Vor zwei Wochen lag die Zahl der Corona-Neuinfektionen bei 37'032, vor einer Woche bei 30'305, diese Woche sind es nur noch 23'867. Woran liegt das? Bisher haben uns Epidemiologen für Herbst und Winter vor steigenden Corona-Zahlen gewarnt.

«Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass die Corona-Infektionen aktuell zurückgehen», sagt Huldrych Günthard (61), Infektiologe am Universitätsspital Zürich, zu Blick. «Wir hatten in den letzten Wochen sehr milde Temperaturen und die Menschen waren viel draussen.» Wenn die Menschen weniger in den Räumen sind, stecken sich auch weniger an.

Ein weiterer entscheidender Faktor im dritten Corona-Jahr könnte die Grundimmunität sein. Diese sei allerdings schwer zu überprüfen. «Im Frühjahr und im Sommer hatten wir je massive Infektionszahlen wegen der Omikron-Varianten. Es wurde somit zusammen mit den Impfungen eine relativ gute Immunität aufgebaut. Dies gibt dann eine gewisse Zeit einen Schutz», fasst der Epidemiologe zusammen. «Das führte dazu, dass die Welle früher als in den letzten beiden Jahren ihren Höhepunkt erreichte.»

«Die Immunität in der Bevölkerung ist recht gut»
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Infektiologe Günthard erklärt:«Die Immunität in der Bevölkerung ist recht gut»

Hohe Dunkelziffer vermutet

Allerdings lassen sich aktuell viel weniger Menschen auf Corona testen. «Die Abwassermessungen in den Kläranlagen zeigten auch in dieser Welle wieder eine hohe Infektionslast. Das heisst, es lassen sich weniger Menschen testen und wir haben eine hohe Dunkelziffer», so Günthard. «Die Welle ist noch nicht vorbei, wir sind immer noch auf einem recht hohen Niveau an Neuinfektionen.»

Günthard warnt davor, dass die Infektionen mit der bevorstehenden Kälte wieder steigen könnten. Auch könnten neue Varianten entstehen. «Covid ist noch immer eine neue Krankheit und wirft viele Fragen auf», so der Infektiologe. Alles in allem sei die Situation dieses Jahr dennoch fundamental anders zu bewerten, als noch im Jahr 2020. «Die Wuhan-Alpha- und speziell die Delta-Variante waren gefährlich, weil keine oder kaum Immunität in der Bevölkerung vorhanden war.» Das änderte sich massiv mit den Impfungen. Das alte Bild der schweren Covid-Erkrankung zeichne sich mittlerweile nur sehr selten ab.

«Die Dramatik von Corona hat abgenommen», stellt Günthard fest. Denn es gibt weniger schwere Verläufe und auch viel seltener Todesfälle. Das grösste Problem im Spital sei die Auslastung auf den Stationen. «Wir haben zu wenig Betten – schon ohne Covid», so der Infektiologe. Corona ist nicht das einzige Virus, das Menschen ins Spital bringt. Da keine Masken mehr getragen werden, können sich beispielsweise Influenzaviren hervorragend ausbreiten. Die Immunität gegen Grippe könnte in den letzten zwei Jahren abgenommen haben, sagt Günthard. Betroffen von schweren Influenza-Verläufen sind vor allem Ältere, aber auch Kinder.

Long Covid und Übersterblichkeit werfen Fragen auf

Günthard betont, dass vor allem Long Covid ein Problem darstellt. «Es gibt sehr viele Menschen, die an Long Covid leiden, aber wir haben keine spezifischen Therapien dafür.» Das sei auch eine finanzielle Belastung für die Gesellschaft, wenn Arbeitskräfte teilweise über Monate ausfallen. «Wir verstehen die Krankheit nicht wirklich und wir können sie nicht effektiv behandeln.» Long Covid wurde bislang vom BAG nicht als relevant genug erachtet, wenn es um die Verschärfung von Massnahmen ging.

Auch die Übersterblichkeit könnte mit Covid zusammenhängen, sagt Günthard. «Dafür gibt es mehrere Hinweise. Die Übersterblichkeit korreliert mehrfach mit den vergangenen Corona-Wellen, auch mit den letzten beiden Omikron-Wellen», erklärt er. Das deute darauf hin, dass das Virus andere Erkrankungen verstärkt.

Es wird diskutiert, ob allenfalls Covid nach der Infektion für vermehrte Herzinfarkte und Hirnschläge verantwortlich sein könnte. Vor allem bei Leuten, die Risikofaktoren für kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen haben und somit Corona indirekt für einen Teil der Übersterblichkeit verantwortlich gemacht werden könnte.

Masken könnten Zeit verschaffen

Günthard appelliert, sich weiterhin impfen zu lassen. «Die Impfung nützt wahrscheinlich auch gegen die Übersterblichkeit», ist er überzeugt. Allerdings nicht zu 100 Prozent. Denn der Infektionsschutz sinke nach ein paar Monaten wieder. «Deshalb kann Corona auch bei Geimpften mit gesundheitlicher Vorbelastung zu schwereren Erkrankungen und Komplikationen führen.»

Die Masken könnten wieder eine sinnvolle Massnahme für die Zukunft sein. «Ich finde, eine Maske zu tragen, ist kein Freiheitsverlust. Und diese Massnahme könnte uns Zeit geben, Long Covid und die Übersterblichkeit besser zu verstehen.»

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