Eher lässt sich der K2 in Flip-Flops besteigen als im Konflikt zwischen zwei Menschen die endgültige Wahrheit finden.
Schon die Benennung wird zum Drahtseilakt – handelt es sich bei dem Dossier, das der «Spiegel» am 3. Februar publik machte, um einen «Fall Tamedia», einen «Fall Canonica» oder einen «Fall Roshani»? Das deutsche Nachrichtenmagazin veröffentlichte vor dreieinhalb Monaten die Abrechnung von Anuschka Roshani (57) mit ihrem Ex-Chefredaktor Finn Canonica (57).
Die Vorwürfe der ehemaligen «Magazin»-Journalistin des «Tages-Anzeigers» – Mobbing, Machtmissbrauch, Diskriminierung – sind heftig und «zeitgeisty», passen also ganz ins Muster der #MeToo-Bewegung: böser männlicher Boss, arme weibliche Untergebene.
Das Thema elektrisierte, weshalb die Medien – auch der SonntagsBlick – rasch zur Stelle waren («Wegschauen aus Prinzip?»). Über die Landesgrenzen hinaus stand der Zürcher Tamedia-Verlag auf einmal im Verdacht, jahrelang toxische Kadermänner geduldet und bei Grenzüberschreitungen ein Auge zugedrückt zu haben. Reihenweise wandten sich, je nach Sichtweise, Leidensgenossinnen oder Trittbrettfahrerinnen mit ihren eigenen Erfahrungen an die Öffentlichkeit.
Die Sache wurde bis zur allgemeinen Übersättigung hochgekocht. Doch wer nichts mehr davon zu hören hoffte, wurde enttäuscht: nach gut einem Monat sprang Roger Schawinski (77) mit Pauken und Trompeten auf die Bühne. Er publizierte Auszüge des von Tamedia in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts der Kanzlei Rudin Cantieni*.
Seitenlanger Seelenstriptease
Die Passagen, die der Journalist und Medienunternehmer zitiert, sind für Roshani vernichtend. Dem Altmeister gelang damit im Alleingang der Coup, den Sexismus- in einen Medienskandal zu drehen: Canonica wurde zum vorverurteilten Mr. Nice Guy, seine Ex-Kollegin zur machtgeilen Intrigantin.
Am 5. März plauderte Schawinski in einem 75-minütigen Interview auf seinem Sender Radio 1 einfühlsam mit dem geschassten Chefredaktor. Danach haute er innert weniger Wochen ein Buch mit dem Titel «Anuschka und Finn» raus, das die neue Rollenverteilung zementiert.
Auf etlichen Seiten der Streitschrift vollführt Canonica Seelenstriptease. Er erzählt von seinem alkoholisierten und «gewalttätigen» Vater und von seiner medikamentensüchtigen Mutter, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von einer Nachbarin in der Waschküche angepöbelt worden sei. Allerdings zeigte sich Canonicas Vater in der «NZZ» über dessen Darstellung «erstaunt».
Vor allem aber zeugt das Werk davon, wie sich Schawinski vom Beobachter zum Protagonisten aufschwingt: Das Wort «Ich» kommt auf den 172 Seiten schwindelerregende 377-mal vor. Das Buch müsste eigentlich «Anuschka, Finn und Roger» heissen.
So überraschungsfrei das Druckerzeugnis in dieser Hinsicht ist, so hartnäckig lobbyierte der Verfasser im Hintergrund, um doch noch ein mediales Ereignis daraus zu machen. Kaum eine Redaktion blieb unbehelligt. Auf dem Branchenportal «Persönlich» – es gehört dem Journalisten und Schawinski-Gefolgsmann Matthias Ackeret (59) – gab er sich dann gerührt vom grossen Interesse («Das übertrifft alle meine Erwartungen»).
Auch die Sonntagsmedien gerieten in Schawinskis Visier. Die Absage des SonntagsBlicks kam bei ihm schlecht an. Trotzig kündigte der Zampano daraufhin auf «Persönlich» an, dass «SonntagsZeitung» und «NZZ am Sonntag» beide «mit einem eigenen, speziellen Approach» berichten würden. Der «spezielle Approach» bestand darin, dass die «NZZ am Sonntag» die Buchbesprechung nach internen Erwägungen aus dem Blatt kippte und die bei Tamedia erscheinende «SonntagsZeitung» ein Schawinski-Interview wieder aus dem Programm strich.
Allzu eindeutige Schwarz-Weiss-Antworten
Dass die erschienenen Rezensionen durchzogen ausfielen, dürfte vor allem einen Grund haben: Allzu eindeutige Schwarz-Weiss-Antworten lösen Skepsis aus. Das gilt für den vom «Spiegel» losgetretenen Shitstorm gegen Canonica ebenso wie für dessen plötzliche Heiligsprechung durch grau melierte Meinungsmacher.
Herzstück von Schawinskis Argumentation ist der erwähnte Rudin-Cantieni-Bericht, von dem er erklärterweise einige Dutzend Seiten zu sehen bekam. Abgesehen von Fragen der Methodik – also zur Auswahl der Befragten sowie der Fragestellung – gilt es zu klären, wie selektiv Schawinskis Quelle ihren Empfänger gefüttert hat. SonntagsBlick liegt der Untersuchungsbericht vom 12. Mai 2022 vor.
Tatsächlich: Nimmt man das 244 Seiten dicke Dokument zum Gradmesser, sieht es nicht rosig aus für Roshani. Die Autoren gingen mehr als 30 Vorwürfen gegen den ehemaligen «Magazin»-Leiter nach. Für die Mehrheit der Anschuldigungen fanden die Ermittler keine Beweise, mehr noch: Bei manchen hätten die Abklärungen «zu ganz anderen Ergebnissen» geführt.
Allerdings finden sich auch andere Stellen. So zerpflücken die Prüfer Anschuldigungen Canonicas gegen Roshani («Die Vorwürfe betreffend Shopping und Doktorarbeit gingen ins Leere») – und sie erkennen zentrale Vorwürfe gegen ihn ausdrücklich an. Getadelt werden zum einen die mittlerweile bekannten Hakenkreuze, die Canonica neben hochdeutsche Ausdrücke seiner Mitarbeiterin in die Manuskripte kritzelte («Verletzung der Tamedia-Führungsgrundsätze»). Auch seine Bezeichnung der Untergebenen als «Pfarrermätresse», die mit einem Kirchenmann ins Bett gehe, werden gerügt. So heisst es im Untersuchungsbericht, dass das entsprechende SMS «ein Indiz dafür» sei, dass Canonica Roshani «eine sexuelle Beziehung» mit dem Fraumünsterpfarrer unterstellt habe.
Die «Sperma-Nagellack-Redaktorin»
Zum anderen ist da der Umgangston, die «sexualisierte und fäkalisierte Sprache»: «Grenzwertig» finden die Untersucher den «Gebrauch gewisser Ausdrücke». So mahnen sie zum Beispiel: «Ansprachen wie ‹Fuck Anuschka› vom Vorgesetzten an eine Angestellte sind irritierend und in Übereinstimmung mit den Führungsgrundsätzen, die Respekt und Wertschätzung betonen, künftig zu unterlassen.» Moniert wird zudem die Kultur des «Austauschs über Dritte».
Dass Canonica die Autorin einer Sexkolumne als «Sperma-Nagellack-Redaktorin» betitelt haben soll, halten die Fachleute für plausibel: Das sei «eine Wortschöpfung, die von einer originellen Urheberschaft zeugt». Weshalb es nicht ausgeschlossen scheine, «dass sie dem als kreativ beschriebenen Finn Canonica zugerechnet werden kann».
Welche Rolle die Resultate des Untersuchungsberichts bei der Aufarbeitung spielen werden, wird sich weisen. Klar ist nur: Um Urteile zu fällen, sind Gerichte da.
Auf die wartet zwar kein Achttausender, aber doch ein Berg Arbeit.
* Transparenzhinweis: Rudin Cantieni ist via Integrity Plus AG auch an einer Untersuchung im Auftrag der Blick-Gruppe beteiligt.