Vlata Gashi (20) musste nach Magenverkleinerung 113 Mal operiert werden
«Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch»

Eine Jugendliche leidet unter starkem Übergewicht. Nach einer Magenverkleinerung stirbt sie fast und verbringt neun Monate im Spital. Zeitweise wird sie jeden zweiten Tag operiert.
Publiziert: 22.10.2024 um 13:09 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2024 um 09:07 Uhr
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Im Spital: Am Tag vor ihrem 18. Geburtstag wacht Vlata Gashi (Name geändert) auf – nach fast vier Wochen im Koma.
Foto: Illustration Lucy Kägi

Auf einen Blick

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Birthe Homann
Beobachter

Lift me up / Hold me down / Keep me close / Safe and sound (Rihanna, 2022)

«Bei jeder Operation lief ein Song von Rihanna», erzählt Vlata Gashi. Sie ist ein grosser Fan der R-’n’-B-Sängerin aus Barbados. Mehrere eingerahmte Songtexte der Künstlerin hängen in ihrem Zimmer zu Hause bei den Eltern. «Ich möchte so gern mal an ein Konzert von ihr», sagt die heute 20-Jährige. Nur leider trete Rihanna einfach nicht in der Schweiz auf.

Die Ballade «Lift Me Up» ist ihr Lieblingssong, ihr Kraftlied. Und so eines konnte sie gut brauchen, um durchzustehen, was ihr alles widerfuhr. Dass Vlata Gashi überhaupt noch lebt, ist ein Wunder.

113 Operationen musste sie vor zwei Jahren über sich ergehen lassen. Wegen schwerwiegender Komplikationen nach einer Magenverkleinerung. Die umfassenden Krankenakten sowie weitere Unterlagen liegen dem Beobachter vor.

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Zurück ins Jahr 2022: Vlata Gashi ist 17 Jahre alt und wiegt 95 Kilo. Bei einer Grösse von 1,62 Metern. Sie ist adipös, Grad II. Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 ist man übergewichtig, ab 30 fettleibig, so die Definition der Weltgesundheitsorganisation. Gashi hat einen BMI von 36,2. Seit längerem ist sie in Behandlung wegen ihres starken Übergewichts.

Stigmatisierung von Übergewichtigen

Gashi wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich etwas schlanker zu sein. Sie hat die blöden Sprüche satt. «Du bist selber schuld», «Iss doch einfach weniger». Stark übergewichtige Menschen gelten in unserer Gesellschaft fälschlicherweise oft als faul, dumm und bequem. Und werden entsprechend behandelt. Zu ihrem Schutz nennen wir Gashis richtigen Namen nicht – damit sie später nicht noch mehr stigmatisiert wird. Es ist ihre Sicht der Ereignisse, die hier beschrieben wird.

Mit zehn Jahren beginnt Vlata Gashi ihre erste Diät. Ohne Erfolg. Innerhalb weniger Jahre wird sie immer dicker. Sie isst Unmengen, meist nur zu Hause, weil sie sich schämt und nicht will, dass sie andere sehen. Sie kann nicht aufhören damit.

Weltweit sind mehr als eine Milliarde Menschen fettleibig – jede fünfte Frau und jeder siebte Mann. In der Schweiz hat sich die Adipositas-Rate in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt, ein Achtel der Bevölkerung ist mittlerweile betroffen.

Sie habe ein hübsches Gesicht, aber einen Scheisskörper, sagen ihr mehrere weibliche Verwandte im Kosovo und vergleichen sie mit ihrer schlanken Schwester. Gashi lebt seit ihrer Geburt in der Schweiz, in den Ferien ist sie oft in ihrem Herkunftsland. In der Schule ist sie ruhig und angepasst, zieht sich oft zurück. Sie leidet still.

Am schlimmsten sei für die meisten Patientinnen und Patienten die Stigmatisierung, die mit der Krankheit einhergehe, sagt der Mediziner Marco Bueter. Er ist Chirurgischer Leiter des Adipositas-Zentrums am Universitätsspital Zürich und am Spital Männedorf. Bueter ist zudem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung von Adipositas und Stoffwechselerkrankungen (SMOB). Die chronische Krankheit könne nicht geheilt, aber behandelt werden.

Vlata Gashi sieht als Lösung eine Magenoperation.

Erfolgreiche Operationen in der Verwandtschaft

Schon ihr Grossvater, ihr Cousin und ihre Tante waren fettleibig – sie alle liessen sich operieren. Erfolgreich. Gashi möchte auch eine Magenverkleinerung, operieren soll sie der Arzt, der bereits ihre Verwandten behandelte.

In der Schweiz gelten strenge Richtlinien für die operative Behandlung von Adipositas. Die Kosten von etwa 15’000 bis 18’000 Franken pro Eingriff werden von der Krankenkasse zum Beispiel nur übernommen, wenn der BMI der Patientinnen und Patienten über 35 liegt. Und auch dann nur, wenn zuvor eine zweijährige Therapie keine Gewichtsreduktion brachte.

Vlata Gashi erfüllt die Kriterien. Ihre Mutter unterschreibt die Einwilligung zur OP, da Gashi zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig ist. Im Vergleich zu anderen Bauchoperationen sind die Risiken bei einer Magenverkleinerung relativ gering. Die Häufigkeit von schwerwiegenden Komplikationen liegt statistisch bei ein bis drei Prozent.

Am 11. Januar 2022 wird bei Vlata Gashi in einem dafür anerkannten Spital eine Magenbypass-OP durchgeführt. Dabei wird der Magen kurz unterhalb der Speiseröhre durchtrennt, so entsteht ein kleiner Vormagen, und die Nahrung wird über eine an diesen angeschlossene Dünndarmschlinge weitertransportiert. Die Patienten verspüren schon nach geringen Essmengen ein Sättigungsgefühl und nehmen dadurch ab. «Wir machen aus dicken Dicken dünne Dicke», bringt es Spezialist Marco Bueter auf den Punkt.

Eine Magenbypass-Operation dauert in der Regel etwa zwei Stunden. Der Spitalaufenthalt meist zwei bis drei Tage – bei Vlata Gashi wird er neun Monate dauern.

Denn bei ihr kam es zu Komplikationen. Lebensgefährlichen Komplikationen.

Schmerzen, Erbrechen, Darmverschluss – Notoperation

Schon kurz nach der OP klagt sie über starke Schmerzen. Sie erbricht wiederholt pinkfarbene, schleimige Flüssigkeit. Das steht in ihrer Krankenakte, die von der Pflege vor Ort ausgefüllt wurde. «Es tropfte auf mein Spitalhemd, auf den Boden, mir war so übel», erinnert sich Gashi. Die Schmerzen seien unerträglich gewesen. «Die Patientin beklagt sehr starke Bauchschmerzen und Übelkeit mit vier Episoden von Erbrechen (gallig, schleimig) ...», notiert auch der diensthabende Arzt am Tag nach der Operation.

Der Spezialist, der sie operierte, ist nicht anwesend – mutmasslich ein Verstoss gegen die geltenden Vorschriften. Die Haftpflichtversicherung des Spitals ist deswegen mit Gashis Anwältin im Austausch. Der betroffene Arzt möchte sich auf Anfrage des Beobachters nicht zum Fall äussern.

Gashi wird vertröstet und bekommt Schmerzmedikamente. «Man nahm mich einfach nicht ernst», meint sie rückblickend. Eine Computertomografie wird erst am übernächsten Tag gemacht, sie zeigt einen Darmverschluss. Eine bei Bauchoperationen seltene, aber lebensbedrohliche Komplikation. «Sofortiger Eingriff notwendig», ist dazu in den Akten vermerkt.

Gashi wird mit der Rega ins nächste Universitätsspital verlegt. Während des Flugs erleidet sie ein akutes Atemnotsyndrom, weil Erbrochenes in die Lunge gelangt. Auch das ist lebensgefährlich. Im Unispital wird sie sofort operiert. Und fällt ins Koma.

Am 7. Februar 2022, am Tag vor ihrem 18. Geburtstag, wacht sie wieder auf. Nach fast vier Wochen. Bunte Luftballons baumeln am unteren Ende ihres Bettes auf der Intensivstation. Eine silberne 18 schwebt darüber leicht hin und her. Gashi meint, sich an die Zeit im Koma erinnern zu können. Sie habe gehört, wie über sie gesprochen worden sei. Eine Ärztin habe sie gerettet, weil sie sie nicht aufgegeben habe – diese Ärztin arbeitet aber nicht mehr in der Klinik und möchte nicht mit dem Beobachter sprechen.

Gashi hatte wohl Nahtoderfahrungen. «Das war traumatisierend.» In ihrem Tagebuch schreibt sie später: «Ich habe mitbekommen, dass die Ärzte über mich diskutiert haben; ob ich überleben werde.» Oder: «Ich habe geträumt, dass ich in einem weissen Raum mit einer schwarzen Tür war. Ich wollte die ganze Zeit zur schwarzen Tür gehen, aber jemand hielt sie zu. Ich bin mir sehr sicher, dass das mein Grossvater war, der nicht wollte, dass ich so jung gehe.»

Eine Operation jeden zweiten Tag

Nach dem Aufwachen ist Gashis Gesicht geschwollen, der Bauch ein «offenes Schlachtfeld». Sie wird abhängig von Opioiden, starken Schmerzmitteln, und über eine Infusion ernährt. «Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch», sagt sie. Jeden zweiten Tag muss sie operiert werden, die Schwämme und Verbände für die Vakuumtherapie auf der offenen Bauchwunde müssen erneuert werden – jedes Mal in Vollnarkose. Ein Höllentrip, auch für ihre Angehörigen.

«Meine Schwester hat im Spital ihren heutigen Mann kennengelernt. Mein Bruder wurde in dieser Zeit zu meinem besten Freund», erzählt Gashi und schiebt die Ärmel ihres schwarzen Nike-Pullis hoch. Insofern habe der Aufenthalt auch sein Gutes gehabt.

Sie ist eine Kämpferin. Mit einem Stoma, einem künstlichen Darmausgang, kann sie das Spital im Oktober 2022 endlich verlassen. Nach 40 langen Wochen. Das Stoma wird sie ein Jahr lang behalten müssen, die Pflege und Versorgung übernimmt ihre Mutter.

Im Februar 2023 setzt sie nach der einjährigen Zwangspause ihre Lehre als Fachfrau Hauswirtschaft fort – und besteht die Abschlussprüfung im Sommer 2024. Heute arbeitet sie drei Tage pro Woche als Angestellte in ihrem Lehrbetrieb, einem Altersheim.

Tiefe Freundschaften und grösseres Selbstvertrauen

In der Berufsschule schliesst sie mit zwei anderen Lernenden eine tiefe Freundschaft. Die beiden stehen hinter ihr und helfen ihr, im Alltag wieder Fuss zu fassen. «Ich habe mich verändert. Heute sage ich, was mir nicht passt. Ich habe keine Angst mehr, meine Meinung zu äussern», so Gashi. Diese Wesensveränderung tue ihr gut. «Das ist mein Glück im Unglück», sagt sie. Sie sei heute ganz anders unterwegs als früher. Habe viel mehr Selbstvertrauen und fühle sich besser. Auch weil sie nun etwas schlanker sei.

War es das wert? «Nein», sagt Gashi. «Ich würde diese Operation nicht noch einmal machen. Der Preis war einfach zu hoch.»

Sie blickt dennoch positiv in die Zukunft. «Ich will vorwärts schauen und endlich abschliessen», sagt sie. Vier Ohrstecker funkeln in ihren Ohren und einer in ihrer Nase. Ihre Wimpern sind stark gebogen und schwarz getüncht, an den Handgelenken baumeln mehrere farbige Armbänder.

Fünfstellige Summe – für einen Klageverzicht

Eine spezialisierte Anwältin für Haftpflicht und Versicherungsrecht steht ihr juristisch bei. Das Spital, in dem der Magenbypass durchgeführt wurde, lehnte eine Haftung ab. Seine Versicherung anerkennt keine Schuld. Wegen des schweren Verlaufs und Schicksals von Gashi biete sie aber Hand zu einer Summe im fünfstelligen Bereich, damit Gashi nicht klage, sagt die Anwältin. Gashi überlegt sich, ob sie darauf eingehen will.

«Liebe», «Glück» und «Frieden» liess sie sich kürzlich in japanischen Zeichen auf eine Narbe am rechten Arm tätowieren. Den linken ziert ein Herz mit einem Anker, ein Tattoo, das schon ihr Grossvater hatte. Im Gedenken an ihn, der 2017 starb. Er war in der Marine, Vlata Gashi war seine Lieblingsenkelin. Und er rettete sie vor der schwarzen Tür, als sie im Koma lag. Davon ist sie nach wie vor überzeugt. Sie summt den Refrain von Rihannas Song «Lift Me Up» – «Keep me close, safe and sound». Halte mich fest, sicher und stark.

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