US-Experte Boris Vejdovsky (61) warnt nach Abtreibungsurteil
«Homosexualität könnte illegal werden»

Boris Vejdovsky (61) von der Uni Lausanne warnt, dass nach dem Verbot von Abtreibungen auch das Recht auf Verhütung, die Ehe für alle und die Gleichberechtigung von Homosexuellen in Gefahr seien.
Publiziert: 11.07.2022 um 20:51 Uhr
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Abtreibungsbefürworterinnen demonstrierten vor der einzigen Abtreibungsklinik im Bundesstaat Mississippi.
Foto: AFP
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Amit Juillard

Die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade durch den Obersten Gerichtshof ermöglicht es den US-Bundesstaaten, Abtreibungen zu verbieten. Doch der Angriff auf die Grundrechte könnte noch weiter gehen, sagt Boris Vejdovsky, Spezialist für amerikanische Kultur und Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Anglistik der Universität Lausanne. Er sieht in den USA das Recht auf Empfängnisverhütung, die Ehe für alle und die Gleichberechtigung von Homosexuellen in Gefahr.

Blick: Was hat die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade bewirkt?
Boris Vejdovsky: Beginnen wir von vorne. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA stammt aus dem Jahr 1973. Damals wurde mit sieben zu zwei Stimmen entschieden, dass Frauen das Recht haben, selbst über den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Der Entscheid löste damals keine grosse Debatte aus.

Wie hat sich das geändert?
1973 störten sich nur Evangelikale am Entscheid. Jahrelang war diese ideologische Bewegung eine Randerscheinung. Dann begann ihr Aufstieg. Nach und nach haben sich die rechtskonservativen US-Politiker der Ideologie dieser Kirchen angenähert.

Warum?
Weil sie ein Machtinstrument sind, insbesondere in den Südstaaten und in den ländlichen Gebieten, wo die Republikaner ihre Machtzentren haben und erhalten müssen.

Westschweizer Amerika-Spezialist

Boris Vejdovsky (61) ist Spezialist für amerikanische Kultur und Literatur. Er ist Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Anglistik der Universität Lausanne.

Boris Vejdovsky (61) ist Spezialist für amerikanische Kultur und Literatur. Er ist Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Anglistik der Universität Lausanne.

Und wer sind die Leidtragenden dieser Entwicklung?
Die Opfer sind Frauen, aus niedrigen sozialen Schichten und ethnischen Minderheiten. Gesetze, die Abtreibung verbieten, sind eine Methode, um diese Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren. Die Kontrolle der Reproduktion von Frauen, Gruppen, Clans, Stämmen und Nationen war schon immer ein politisches Thema. Nehmen Sie Maos Ein-Kind-Politik in China, Napoleons Geburtenpolitik in Frankreich etc.

Sie sagen, die Republikaner wollen einen Teil der Bevölkerung kontrollieren, um an der Macht zu bleiben?
Kontrollieren Sie die Sexualität der Menschen und die Frauen, und Sie werden die Welt kontrollieren. Jeder autoritäre Staat versucht das.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs trägt die Handschrift von Donald Trump. Er hat während seiner Amtszeit drei sehr konservative Richter ernannt, die nun in gesellschaftspolitischen Fragen das Pendel nach rechts ausschwingen lassen.
Ja, und das ist beunruhigend. Alle Bürgerrechte in den USA wurden einst durch Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs erreicht: Das Urteil Loving v. Virginia aus dem Jahr 1967, das die Ehe zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe legal machte. Oder das Urteil Lawrence v. Texas aus dem Jahr 2003, mit dem die sogenannten «Anti-Sodomie»-Gesetze abgeschafft wurden, die besagten, dass Homosexualität «unnatürlich» sei. Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs regeln das Recht auf Leben, Autonomie und Freiheit und entscheiden letztendlich darüber, wer die Macht hat.

Was meinen Sie damit?
Die Aufhebung von Roe v. Wade beraubt Frauen eines Teils ihrer Freiheiten, eines Teils ihrer Autonomie und damit ihrer Macht. Es ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte der USA, dass einer Bevölkerungsgruppe verfassungsmässige Rechte entzogen werden.

Müssen wir befürchten, dass weitere sogenannte progressive Urteile aufgehoben werden?
Auf jeden Fall. Wenn die Dinge schieflaufen, könnte dies nur der Anfang gewesen sein.

Was müssen wir erwarten?
Wenn die Republikaner die Zwischenwahlen im November gewinnen, was wahrscheinlich ist, werden sie vielleicht versuchen, Abtreibungen auf Bundesebene zu verbieten.

Welche anderen Freiheiten sind über das Recht auf Abtreibung hinaus in Gefahr?
Clarence Thomas, der konservativste Richter des Obersten Gerichtshofs, sagt, dass sexuelle Rechte, unter anderem das Recht auf Empfängnisverhütung usw. überprüft werden müssen.

Im Klartext: Der Damm ist gebrochen.
Ja. Homosexuelle, Transgender und schwarze Menschen sind nicht mehr sicher. Man könnte ihre Rechte infrage stellen, angefangen bei der Ehe für alle. Auch Homosexualität könnte in den USA illegal werden.

Konservative Kreise sind anderer Meinung: Sie machen die Woke-Bewegung für die Trennung der Gesellschaft verantwortlich.
Es gibt eine komplette Umkehrung der Realität. Die Konservativen greifen im Namen der Freiheit Minderheiten an. Sie zwingen die Menschen, sich für eine Seite zu entscheiden, spalten die Gesellschaft. Und stellen die Wokes – die für die Rechte von Minderheiten eintreten – als Extremisten dar, die die amerikanischen Werte untergraben, die Meinungsfreiheit und die Grundfesten der Welt angreifen wollen.

Gibt es in der Schweiz einen ähnlichen Kampf?
Die Rechte greift das Thema hier ebenfalls auf. Sie sagen: «Ihr seid ja nett, wenn ihr über die Selbstbestimmung von Minderheiten und geschlechtsneutrale Toiletten reden wollt, aber das wahre Problem sind die Benzinpreise!»


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