Ihr Leben steckt im Smartphone. Langsam scrollt der Daumen mit dem lackierten Fingernagel die Bilder rauf und runter. Shootings für Mode. Werbeaufnahmen. Szenen aus einer Soap. Moderationen in TV-Sendungen. Und dazwischen: Bilder von zerstörten Hochhäusern, aus denen Rauchsäulen aufsteigen zu sehen. «Ich hatte eine 120 Quadratmeter grosse Eigentumswohnung im Zentrum von Kiew mit Blick auf die Stadt. Das Hochhaus wurde beschossen», sagt Anna Vasilevskaya (38) zu Blick.
Heute schaut die Ukrainerin vom Balkon einer kleinen Dreizimmer-Wohnung auf die Dorfkirche von Bodio TI. Der Tessiner 1037-Seelen-Ort in der Leventina ist ihre neue Heimat. Für die Grossstädterin eine andere Welt. Die 38-Jährige war in der Ukraine ein erfolgreiches Model, schaffte auf die Titelseiten einiger Hochglanzmagazine. Sie trat im Fernsehen auf, hatte kleine Rollen in Serien, war Wetterfee. Zuletzt führte sie eine Model-Schule für Kinder. «Es war ein wunderbares Leben», sagt die schöne Ukrainerin. «Dann kam der 24. Februar, und alles ging verloren».
Anna wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. «Am Abend vor der Invasion hatte ich einen grossen Gala-Event. Die Gäste sprachen vom möglichen Überfall auf unser Land. Wirklich geglaubt daran hat niemand», erinnert sich das Ex-Model. «Als die ersten Bomben fielen, bin ich mit meinen Kindern sofort aus der Wohnung. Wir lebten in der Nähe vom Flughafen im 23. Stock.» Den Airport würden die Russen als Erstes angreifen und Raketen die obersten Stockwerke der umliegenden Häuser treffen. Dessen war sich die Ukrainerin sicher.
Von Kiew im Schritttempo nach Moldawien
Anna Vasilevskaya schnappt sich ihre beiden Buben, Dimitri (4) und Yaroslav (10), und zieht zur Mutter Tatjana (70) in ein kleines Haus. «Wir hatten gerade eine Tasche dabei», erzählt Anna weiter. «Die Menschen flohen zu Tausenden. Die Strassen von Kiew waren verstopft. Ich wusste nicht, wohin.» Die Ukrainerin besitzt zwar einen schicken Jeep, liess den Wagen aber lieber stehen. «Geländewagen sind im Kampfeinsatz begehrt. Man hätte mir möglicherweise den Wagen weggenommen und uns auf der Strasse zurückgelassen», befürchtete die alleinerziehende Mutter. Also suchte die Familie eine Mitfahrgelegenheit.
Die Flucht ging zunächst nach Moldawien. Im Schritttempo. Für 500 Kilometer brauchte die Familie über einen ganzen Tag. Die Reise ging weiter nach Polen. «Alle meine Freunde waren in den Westen unterwegs. Auf meinem Handy hatte ich ein regelrechtes Netzwerk. Eine Freundin riet mir, in die Schweiz zu gehen», erzählt Anna Vasilevskaya weiter. Die Familie fand einen privaten Bus, der sie ins Tessin mitnahm.
«Die Menschen haben uns aufgenommen wie Verwandte»
Ende März 2022 erreichte die ukrainische Familie Bodio. Der Empfang rührt Anna noch heute. «Die Menschen haben uns aufgenommen wie Verwandte. Dabei kannten sie uns doch gar nicht. So viel Herzlichkeit habe ich noch nie erlebt.» Die Wohnung bekam sie von der Gemeinde. Die Leute im Ort kauften Möbel, brachten Spielsachen. «Sie gaben uns Italienisch-Unterricht und sie halfen uns bei den Behördengängen. Wir sind ihnen so dankbar.»
Einen Job findet Anna Vasilevskaya zwar nicht, aber nützlich macht sie sich dennoch, wenn auch unentgeltlich. Sie übernimmt die PR-Arbeit im Hilfswerk «Amicizia dei Popoli» («Freundschaft der Völker»), hofft aber doch, auch in der Schweiz noch modeln zu können. «Ich muss für meine Familie sorgen.»
«Wenn endlich Frieden ist, fahren wir sofort zurück nach Kiew»
Die Südschweiz sei so schön, die Menschen so freundlich, der Krieg aber lasse sie auch im fernen Tessin nicht los. Mit grossem Schmerz verfolgt Anna die Nachrichten. «Es tut so weh, das Grauen und die Zerstörung zu sehen. Das ist kein normaler Krieg. Es ist ein Genozid am ukrainischen Volk.»
Besonders nachts quälen sie die Gedanken. Vasilevskaya zu Blick: «Ich kann schlecht schlafen. Und wenn ich einschlafe, dann schrecke ich aus Albträumen hoch. Immer wieder habe ich die Bomben vor Augen.» Dennoch steht für Anna und ihre Lieben fest: «Wenn endlich Frieden ist, fahren wir sofort zurück nach Kiew.» Doch die Schweiz verlasse sie auch mit einem weinenden Auge. «Hier bin ich so gut aufgenommen worden, ich weiss, ich werde auch das Tessin eines Tages vermissen.»