Vom Prunkstück zum Spukschloss
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Jetzt kommen die «Urbexer»:Vom Prunkstück zum Spukschloss

Das Grand Hotel Locarno war einst die Perle des Filmfestivals, heute zieht es nur noch Fans des Grusels an
Vom Prunkstück zum Spukschloss

Seit 145 Jahren thront das Grand Hotel über Locarno TI. Hier logierten 1925 Vertreter der Friedenskonferenz, später unzählige Weltstars des Filmfestivals. Doch nun zerfällt der historische Bau – und statt Touristen wagen sich nur noch Grusel-Fans in die Ruine.
Publiziert: 04.03.2021 um 01:50 Uhr
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Aktualisiert: 28.04.2021 um 15:39 Uhr
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Gut ausgerüstet muss man sein. Das meint Michael (38) aus Luzern. Neben seiner Kamera hat der Koch immer mehrere Taschenlampen und eine Reiseapotheke dabei.
Foto: www.steineggerpix.com
Myrte Müller

Die Gütesiegel erinnern noch an bessere Zeiten. Festival-Hotel, Grand Hotel Club, goldene Sterne: Die Vignetten kleben hartnäckig an der Scheibe des gläsernen Entrées. Dahinter öffnet sich eine pompöse Empfangshalle. Edle Ornamentfliesen gehen in Parkett über. Stuck und Deckenmalereien überspannen die heute verwaisten Säle. Dazwischen platzt der Firnis an den Wänden. Roter Teppichboden verfilzt und reisst. Abgewetzte Holzbohlen brechen. Auf den Lüstern und Kronleuchtern raubt Staub den Glanz. Wie eine stumme Glocke überstrahlt der grösste Kronleuchter der Welt aus zartfarbenem Murano-Glas die vier Stockwerke im Treppenhaus.

«Wir heizen seit Wochen nicht mehr, und Strom hat es nur noch im Eingangsbereich und auf den Fluren», sagt Abwart Felix Smolnik (51). Fenster und Türen sind verrammelt und machen den einst lichtdurchfluteten Palast zum gigantischen Bunker. Bewegungsdetektoren melden überall im Haus Eindringliche. Denn der Albtraum der Eigentümergemeinschaft sind Vandalen, so Smolnik.

Er sei dennoch verliebt in diese alte Dame. «Ich habe das Grand Hotel vor vielen Jahren entdeckt, als es noch das Zentrum des Filmfestivals war», so der Abwart. Zuweilen spricht es mit ihm. «Das Holz knarrt und knackt, und wenn der Wind pfeift, schlägt irgendwo in den 83 Zimmern ein Fenster oder eine Tür.»

Grusel-Tour gegen Gebühr

Jeden Tag zieht Felix Smolnik seine Runde. Heute empfängt er Gäste. Es sind keine üblichen Touristen – die hat das Grand Hotel Locarno seit seiner Schliessung im Dezember 2006 nicht mehr gesehen. Claudia (57), Vanessa (26) und Michael (38) sind «Urbexer», eine Art «Jäger des verlorenen Schatzes». Ihre Reiseziele sind sogenannte Lost Places (verlorene Plätze): Geisterschlösser, Bauruinen, verlassene Höfe oder ausgediente Fabriken. Und nun zählt auch das Grand Hotel dazu. 80 Franken kostet die vierstündige Grusel-Tour durch den Prunkbau, in den wild wuchernden Park, vorbei am moorigen Swimmingpool. Nichts wird ausgelassen. Kein Keller. Keine Dachkammer.

«Wir sind Hobby-Fotografen, organisieren uns im Internet und reisen dann gemeinsam an», sagt Claudia. Die Atmosphäre. Der Verfall. Die historische Vergangenheit. Und die unheimlichen Momente in der Finsternis, treiben ihren Puls nach oben. All das fasziniere sie, so die medizinische Praxis-Assistentin aus Zürich. Urbexerin Vanessa ist ein alter Hase: «Ich suche schon seit vier Jahren Lost Places auf, richte auch meine Ferien nach den geheimnisvollen Zielen».

Reiseapotheke und Taschenlampe gehören zur Grundausrüstung

Michael zählt seine Ausrüstung auf. «Du brauchst festes Schuhwerk, eine Mütze wegen der Spinnweben. Handschuhe. Eine Reiseapotheke, falls du dich verletzt. Dann Taschenlampen», sagt der Luzerner Koch. Davon hat er gleich mehrere. Zwei Stirnlampen. Ein kräftiges Licht zum Ausleuchten und eine Lampe mit Blitzfunktion zur Selbstverteidigung. «Man weiss ja nie, plötzlich steht dir irgendein Tier gegenüber!»

Im Grand Hotel begegnen sie keinem gefährlichen Wesen. Zumindest keinem lebendigen. Im Labyrinth des ehemaligen Weinkellers finden die Foto-Fans einen mumifizierten Kadaver. «Vielleicht ein kleiner Streuner, der sich vor vielen Jahren im Gewölbe verlaufen hat und nicht mehr rausfand» vermutet Claudia. Grusel-Faktor erfüllt.

Unter den Kaufinteressenten ist auch ein indisches Unternehmen

Gut ein Dutzend «Expeditionen» hat Felix Smolnik schon durch das Grand Hotel geführt. Meist Gruppen von drei bis vier Personen. «So bleibt das Hotel im Gespräch», sagt der Abwart. Aber: «Ich hoffe so sehr, dass es eines Tages wieder zum alten Glanz zurückfindet.» Der Abriss jedenfalls droht vorerst nicht. «Wir haben einige Kaufinteressenten», sagt Miteigentümer Giancarlo Cotti (63) von der Assofide AG in Locarno.

Über 23 Millionen Franken kostet das Grand Hotel. Mindestens weitere
60 Millionen müssten investiert werden
(BLICK berichtete). Auflage des Denkmalschutzes: Fassaden, Prachtsäle und Treppenhaus müssten im Stil erhalten werden. So würde aus dem Geisterhaus wieder ein echtes Grand Hotel.


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