«Man kann das Mentale durch das Schiessen stärken»
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Armbrust-Schweizermeisterin:«Man kann das Mentale durch das Schiessen stärken»

Tell ohne Nachfahren
Armbrust-Schützen sterben aus

Tells Nachfahren fehlt der Nachwuchs. Wenn es so weitergeht, verschwindet diese Schweizer Spezies ganz. Ein Besuch an ihrem grössten Fest.
Publiziert: 10.07.2022 um 09:29 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2022 um 13:55 Uhr
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Geschossen wird auf Scheiben – und ausnahmsweise wie damals Tell auf Schweizer Äpfel.
Foto: Siggi Bucher
Tobias Marti Text und Siggi Bucher Fotos

Es gibt Bereiche im Schiessstand, die sind tabu, da hat man nichts verloren, wie jener Sektor zwischen Schütze und Scheibe, wo naturgemäss etwas sehr schnell angeschossen kommt, was sehr schmerzhaft werden kann. Also just da, wo nun eine Frau im Sportlertenue lächelnd hin- und herrennt. Aus dem Schiessstand kommen sogar noch Anfeuerungsrufe für diese Verrücktheit.

Willkommen am 25. Eidgenössischen Armbrustschützenfest in NeuwilenTG. Gerade wird nicht geschossen, es läuft die Stafette, ein Doppel aus Politik und Sport. Da schiessen Thurgaus Regierungsrätin Monika Knill (Vorsicht, die SVP-Politikerin trifft!), neben Schwingerkönig Nöldi Forrer und Triathletin Nicola Spirig auf Thurgauer Äpfel.

Nachwuchs fehlt

Doch weder das Eröffnungsgaudi noch die schmucken Geranien, die Festhalle, der Softeis-Stand oder die Ehrendamen können darüber hinwegtäuschen, dass den Armbrustschützen nicht zum Feiern zumute ist. Tells Nachfahren fehlt es an Walterlis. Weit und breit kein Nachwuchs in Sicht. OK-Präsident Roland Ravelli senkt traurig den Daumen: «Es geht jedes Jahr abwärts.»

Zwischen 800 und 850 Schützinnen und Schützen werden dieses Jahr zum grossen Stelldichein erwartet. Beim letzten Eidgenössischen vor drei Jahren fiel man erstmals unter die 1000er-Marke. Wo vor 20 Jahren noch 80 Scheiben aufgestellt wurden, stehen heute noch 36. Und von einer Truppe, die sich Generation um Generation halbiert, von der ist bald nichts mehr übrig.

Fragt man Ehrengast Nöldi Forrer, wie es ihm am Fest der Feste der Armbrustschützen gefalle, blickt sich der Schwinger erstaunt um: «Ist das ein Eidgenössisches?» Der Mann ist mehr gewohnt

Es wurde viel versucht

Was hat man nicht alles versucht. Broschüren an Schüler verteilt, Schiesskurse in den Ferienpass aufgenommen und natürlich den Schweizer Nationalhelden als Marketingsujet ausgeschlachtet.

Oder man hat Zugeständnisse gemacht: Wo früher nur frei geschossen werden durfte, hat man nun ein Böckli eingeführt, auf dem die Armbrust ruht. Das ist zwar bequemer – so ein Gerät wiegt zwischen sieben und achteinhalb Kilo – missfällt aber den Traditionalisten.

Auch am Geld sollte es nicht scheitern. Weil sich kaum ein Jugendlicher eine Armbrust leisten kann – die kostet (made in Switzerland) schnell gegen 6000 Franken, für Profiklamotten sind locker noch mal 2000 Franken fällig – stellen die Vereine noch so gerne ganze Arsenale zur Verfügung.

Es mangelt an Action und Spektakel

Genützt hats wenig. Wie könnten wir bloss die Jungen für einen stillen Sport begeistern, hintersinnt sich OK-Chef Ravelli. Man ahnt das Dilemma: Die heutige Jugend will Action, Spektakel, etwas für Instagram-Föteli.

Plopp macht der Schuss. Surr macht das Motörchen mit der heransausenden Scheibe. Und so geht es weiter. Plopp. Surr. Plopp. Surr. Durch die Wasserwaage zielen, konzentrieren, schiessen. 60 Meter pro Sekunde ist der Bolzen schnell, den hier alle Pfeil nennen. Viel mehr ist nicht zu hören, kein Vergleich zur Geräuschkulisse bei den Kameraden am Sturmgewehr.

Natürlich ist das hier ein absoluter Randsport. Allein das Tenue mit den Schlaufen und Knöpfen – eine Mischung aus Töff-Kombi und farbenfrohem Korsett – ist gewohnheitsbedürftig. Wer nicht ersticken möchte, schliesst nur die obersten Knöpfe, so sperrig ist die Robe. «Das muss so sein, das gibt Stabilität», erläutert Mara Schönholzer. Nur an Gewicht zulegen sollte man nicht allzu viel, sonst hört das Zwicken gar nicht mehr auf.

Meditatives Glücksgefühl

Ja, es gibt auch Frauen, und sehr erfolgreiche sogar – wie Mara Schönholzer, Schweizermeisterin und Teilnehmerin an Welt- und Europameisterschaften. Das Schöne an diesem Sport sei das Meditative, sagt sie, das versichern überhaupt alle. Man sei ganz für sich, ganz bei sich, man komme herunter.

Und wenn man wirklich einen Zehner geschossen hat, diesen nur daumennagelgrossen Fleck, kann das auch Glücksgefühle wecken.

Martin Schneider ist der Mann, der versucht, die Negativspirale irgendwie zu stoppen. «Der Zerfall der Mitgliederzahlen ist beängstigend und es ist keine Kehrtwende in Sicht», konstatiert er. Der Berner Verband zum Beispiel, nicht gerade der Kleinste, hat noch ganze 20 Nachwuchsschützen im Alter zwischen acht und 22.

Schiesssport hat schweren Stand

Schwer zu sagen, was da schiefgelaufen ist. Vielleicht liegt es daran, dass der Sport keine Olympiadisziplin ist, obwohl bereits die Griechen, Römer und Chinesen mit der Waffe hantierten und sie im Mittelalter gross in Mode war – mit verheerender Wirkung für manchen Ritter. Prominentestes Opfer war (nebst Gessler in der Hohlen Gasse) König Richard Löwenherz. Die Schützen selbst sprechen übrigens immer von ihrem Sportgerät, nie von einer Waffe. Über diese Frage wurde auch schon vor Gericht gestritten (ein Sportgerät, sagten die Richter).

In die Schulen kommen sie trotzdem nicht rein. «Die wehren ab, wenn sie Schiessen hören», sagt Verbandschef Schneider. Tatsächlich hat der Schiesssport in der Schützennation Schweiz zunehmend einen schweren Stand.

Zu viele Vereine

Und es ist auch sonst einfach sehr viel los. In Martin Schneiders Heimat Frutigen BE, 6500 Einwohner, buhlen 90 unterschiedliche Vereine um Nachwuchs, um Funktionäre und um Geld. So geht das in jeder Schweizer Gemeinde. Ausser denen, die König Fussball dienen, sind viele Vereine am Serbeln. Schneider setzt nun auf die Generation der 30- bis 50-Jährigen, organisiert etwa Firmenevents mit Armbrust.

Die Gäste aus Sport und Politik haben sich mittlerweile in die Festhalle zurückgezogen, nun treten die Profis zur Thurgauer Meisterschaft an. Zuschauer? Knapp zwei Dutzend. Jeder Schütze hat Stöpsel in den Ohren, aber es herrscht Totenstille, die Anfeuerungsrufe sind verstummt. Alle blicken ernst. Es ist ja auch eine ernste Sache.

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