«Ich bin de Andreas.» Vollenweider sitzt im Niederdorf in Zürich, der Stadt, in der er geboren ist, und nippt an einem Glas Wasser. Sein Haar ist schneeweiss, anders als man ihn von seinen berühmten Plattencovern kennt. Die vielen Superlative, die seine Biografie säumen, sind ihm nicht anzusehen: erster Schweizer Grammy-Gewinner, mehr als 15 Millionen verkaufte Tonträger, Inhaber des World Music Award und Pionier der Instrumentalmusik, der Generationen von Komponisten und Musikern inspirierte. Nach einer coronabedingten Pause kehrt Vollenweider auf die Bühne zurück. Am 27. Juli tritt er am Festival da Jazz in St. Moritz GR auf.
Sie haben ein ganz junges Publikum hinzugewonnen: Sie spielen jetzt für Neugeborene. Wie kam es dazu?
Andreas Vollenweider: Da geht es um das Projekt einer Forschergruppe des Genfer Uni-Spitals und des Nationalfonds. Man war 2013 auf mich zugekommen mit der Frage, ob es Wege geben könnte, durch Klang dem enormen Stress einer Frühgeburt entgegenzuwirken. Durch diesen Stress blockieren sie sich gegenüber allen Reizen von aussen, was ihre Hirnentwicklung stark erschwert. Ich war fasziniert von der Idee – und so habe ich Klangwelten ausgearbeitet mit einer möglichst entspannenden, gleichzeitig aber auch anregenden Wirkung. Diese Klänge wurden den Babys dann mehrmals täglich über Kopfhörer vorgespielt.
Und das Ergebnis?
Die Doppelblindstudie ergab nach fünf Jahren, dass bei Kindern, die diese Klanganwendungen erhalten haben, tatsächlich signifikante Verbesserungen ihrer Hirnentwicklung stattgefunden haben. Ich war erstaunt über die Deutlichkeit dieses Resultats, und die Fachwelt aus Medizin und Wissenschaft ist begeistert.
Vollenweider, der Babyflüsterer.
Ich bin sehr dankbar, dass ich bei diesem Projekt mitmachen konnte, nicht zuletzt, weil ich neben meinem Hang zum Kreativen durchaus grosses Interesse an der präzisen Wissenschaft habe. Aber darüber wollten Sie ja wahrscheinlich nicht mit mir reden, oder?
Sie erwarten hoffentlich keinen fixen Fragebogen.
Ich halte mich sowieso nie an Fragebögen. Ich tendiere dazu, abzuschweifen, thematisch kann die Reise dann irgendwohin gehen.
Sie geben Interviews darüber, wie Sie Musik machen?
Bei mir entsteht alles intuitiv, die Musik entsteht aus der Improvisation, aus dem freien Spiel, ja selbst beim Schreiben gehe ich so an die Sache ran. Das ist für mich der Königsweg.
Sie sind ein Pionier der Instrumentalmusik, Sie hatten damit Welterfolg, viele andere zogen nach. Wer waren Ihre Vorbilder?
Ich hatte nicht in dem Sinne Vorbilder. Für mich war Musik vielmehr eine Überlebensstrategie. Ich habe die Schule gehasst. Wann immer ich konnte, blieb ich der Schule fern – und das hat sich für mich wirklich bewährt. Meine Kindheit erlebte ich in einem sehr inspirierenden Umfeld, meine Familie und ihre Freunde waren viel interessanter als meine Lehrer. Nach der Schule rannte ich jeweils heim, warf den Thek in die Ecke und begann stundenlang auf dem Klavier zu improvisieren, um wieder in meine Welt zurückzufinden. So mache ich noch heute Musik. Sie vermag mich zu mir selbst zu führen, in eine Tiefe, die nur auf diesem Weg zu erreichen ist.
Sie durften lange nicht vor Publikum spielen. Bald ist es wieder so weit. War die Zwangspause Fluch oder Segen?
Fluch würde ich sicher nicht sagen. Es war nicht einfach. Wir waren vor der Pandemie voller Enthusiasmus; ich hatte ein neues Buch am Start, ein neues Album, dann noch zwei Alben in petto, wir waren richtig parat. Der Lockdown war dann schon hart, auch für meine Leute.
Fiel Ihnen das Verständnis für die staatlich verordneten Massnahmen immer leicht?
Ganz ehrlich: Es hat mich persönlich eigentlich nicht so heftig tangiert.
Ah ja?
Ich lebe sowieso in einer Art Dauerquarantäne. Das ist mein Privileg. Sonst käme ich ja nirgendwo hin! Ich habe nicht mehr so lange Zeit, mein Zähler läuft.
Ach bitte!
Ich bin 68, die Zeit läuft, und ich will sie noch gut nutzen. Deshalb versuche ich, Leerlauf oder Ablenkung zu vermeiden. So gesehen hat sich für mich nicht viel geändert, ich habe einfach weitergearbeitet. Was aber wirklich hart war: dass meine Frau und ich unsere Kinder und Enkelkinder lange nicht sehen konnten. Wenn die Enkelin fröhlich auf einen zurennt und im letzten Moment verunsichert einen Stopp reisst – das war schon sehr bitter.
Haben Sie Ihr Publikum nicht vermisst?
Ich habe in der Pandemie eine neue Form von Direktheit entdeckt: bei mir zu Hause vor der Kamera zu spielen, so wie ich das bei meinen «Mini Concerts» im Internet auf Youtube mache. Ich bin sehr erstaunt, wie viele Leute sich da zuschalten! Es gab Konzerte, da hörten über hunderttausend Leute zu, von überallher – auch aus Asien, Lateinamerika, Afrika. Unser Problem war ja immer, dass unsere Hörer auf der ganzen Welt verstreut sind. Wir konnten für die Mehrheit unseres Publikums nie live spielen. Und nun plötzlich war das möglich.
Sie haben dank Corona mehr Leute erreicht?
Ja, viel mehr. Das Wort virtuell hat für mich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Nach meinen «Mini Concerts» schreiben die Leute teilweise unglaublich persönliche, berührende Kommentare. Das ist bei einem normalen Auftritt ja nicht möglich. Und es sind so viele! Das ist sehr berührend. So ist auf eine ganz unerwartete Weise Nähe entstanden.
Eine Nähe, die virtuell bleibt ...
Die Botschaft ist die Musik, darum geht es. Auch eine CD ist virtuell, ebenso ein Buch.
Du liest es und erweckst es dadurch zum Leben, es wird zu deiner Geschichte mit deinen Bildern. Auch ein Liebesbrief ist virtuell! Du bist ja nicht persönlich anwesend, die Empfängerin muss sich den Schreiber vorstellen, und wenn deine Worte gut gewählt sind, dann entsteht Nähe, die Worte berühren.
Was ist denn nun Ihre Botschaft?
Es ist eigentlich sehr einfach. Unsere Musik soll Momente von Glück bewirken, sie soll helfen, ein Depot von Glücksgefühlen anzulegen. Es sind solche Gefühle, die uns helfen, den Blick für das Positive zu finden und zu schärfen. Die Atmosphäre unserer Musik soll eine Gegenerfahrung anbieten zur häufig dominanten Negativspirale. Die lauert stets auf ihre Chance, uns hineinzuziehen, gerade in Zeiten von Herausforderungen wie dieser Pandemie. Aber selbst bei den wirklich grossen Krisen lassen sich immer auch positive Aspekte finden, die die Kraft haben, uns aus der Opferrolle zu befreien und uns wieder handlungsfähig zu machen. Wir müssen sie nur sehen. So kommen wir in einen proaktiven Modus. Erst dieser Blick macht es möglich, Wege zur Lösung eines Problems zu erkennen.
Der Beizer oder der Eventveranstalter, der im Lockdown dichtmachen musste, wird jetzt sagen: «Der berühmte und reiche Herr Vollenweider hat gut reden!»
Das verstehe ich. Aber an der Wirkung der Methode, an eine Krise heranzugehen, ändert das nichts. Auch wenn du deine Beiz schliessen musst, musst du ja wieder Ideen und Leidenschaften aufbauen für etwas Neues. Dann ist es existenziell wichtig, nach der Phase der Enttäuschung so schnell wie möglich wieder in diesen proaktiven Modus zu kommen.
Was ist Ihr Rezept dazu?
Bewusst werden, bewusst sein! Bevor wir werten und uns festlegen, wir uns eine Meinung bilden, versuchen zu verstehen, was mit uns passiert, die Hintergründe und Zusammenhänge ergründen. Aus der Summe dieser Erfahrungen, Erkenntnisse, Erinnerungen, Gefühle und Beobachtungen entsteht unsere Haltung. Sie ist unser kostbarstes Juwel, denn es ist unsere Haltung, die unser Handeln, unsere Entscheidungen und unsere Werte leitet und formt. Sie ist in allem zu finden: wie wir unsere Kinder begleiten, wie wir kochen, Geschichten schreiben, Musik machen oder mit unseren Mitmenschen umgehen.
Es ist schwierig, Ihnen etwas Negatives zu entlocken. Jammern wir Schweizer zu viel?
Es ist manchmal schon etwas bizarr. Ich war an so vielen Orten auf der Welt, wo es den Menschen wirklich nicht gut geht, aber hier gibt es ein Riesentheater, wenn ein Fussballer der Nati die falsche Frisur trägt. Wir sind schaurige Jammeri. Aber das ist das Schicksal der Privilegierten.
Wir jammern, weil es uns gut geht?
Wir sehen offenbar wirklich nicht, wie gut es uns geht! Wir bewegen uns in diesem Jammermodus wie Süchtige. Wir sehen unsere Probleme als unbezwingbare Mauer. Wir kommen da nicht raus. Wie wenn du mit dem Rauchen aufhörst: Verspürst du einmal Lust auf eine Zigarette, dann glaubst du, vor einem steilen, unüberwindbaren Berg zu stehen. Aber das ist nur eine steile Spitze, nur eine kurze Attacke, die sich als riesiges Gebirge präsentiert. Dahinter geht es aber gleich wieder runter.
Sie reden aus Erfahrung?
Ich habe vor Jahren täglich hundert Zigaretten geraucht, fünf Päckli. Jahrelang. Ich hätte mich sicher zu Tode geraucht. Natürlich ging das irgendwann nicht mehr, nicht zuletzt, weil wir eine Familie gründen wollten. Mit der Erkenntnis dieser kurzen Spitze konnte ich auf der Stelle aufhören, ohne irgendeine Nebenwirkung. Ich kann diese Methode wärmstens empfehlen.
Sie haben sich immer engagiert, für die Dritte Welt, für die Friedensbewegung. Wieso sind Sie nie ganz in die Politik gegangen?
Dazu bin ich viel zu pragmatisch. Ich würde mich mit dieser Form von faulen Kompromissen nicht wohlfühlen. Dennoch ist für mich alles auch politisch, alles hat Zusammenhänge und Aspekte, die eine Wirkung auf alle haben, also eben politisch ist.
Früher gab es die New-Age-Szene, die Anti-Atom-Bewegung und andere Strömungen. Heute gibt es die Klimajugend. Was halten Sie davon?
Ich finde es fantastisch, dass so viele dieser Generation begriffen haben, was die Alten offenbar nicht verstanden haben und sich selbst belügen mit einem ganzen Dschungel von Scheinfakten. Die Jungen sehen, dass es ums nackte Leben geht. Ich bin schwer beeindruckt von dieser Bewegung.
Der Absturz des CO2-Gesetzes liess sich trotzdem nicht verhindern.
Es ist schwierig zu verstehen! Die Konsequenz, wenn wir nichts machen, ist für alle viel gravierender als ein höherer Benzinpreis von ein paar Rappen. Grelles Licht aus verängstigenden Falschinformationen hat die überforderten Wähler geblendet. Die direkte Demokratie ist ein kostbares Gut, aber sie wird uns noch extrem fordern. Minarett- oder Burka-Initiative waren Peanuts gegen das, was kommt. Beim Thema Klimawandel wird es bald für viele Menschen um Leben und Tod gehen. Sind wir ohne jeden Selbstzweifel bereit, diese Verantwortung zu tragen?
1953 in Zürich geboren, wurde Andreas Vollenweider mit seinem Harfenspiel zum Wegbereiter der Instrumentalmusik. In den 80ern gelang ihm der internationale Durchbruch. Mit 15 Millionen verkaufter Platten ist der Grammy-Preisträger der erfolgreichste Schweizer Musiker. Er lebt seit fünf Jahrzehnten mit seiner Partnerin zusammen, hat drei Kinder und zwei Enkel.
1953 in Zürich geboren, wurde Andreas Vollenweider mit seinem Harfenspiel zum Wegbereiter der Instrumentalmusik. In den 80ern gelang ihm der internationale Durchbruch. Mit 15 Millionen verkaufter Platten ist der Grammy-Preisträger der erfolgreichste Schweizer Musiker. Er lebt seit fünf Jahrzehnten mit seiner Partnerin zusammen, hat drei Kinder und zwei Enkel.