«Es braucht immer zivilen Ungehorsam»
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Sozialpsychologe Harald Welzer:«Es braucht immer zivilen Ungehorsam»

Sozialpsychologe Harald Welzer (62) über Klima-Frage
«Es braucht immer zivilen Ungehorsam»

Er ist einer der gefragtesten Intellektuellen Deutschlands, ein provokanter Mahner und ein Öko der ersten Stunde: Harald Welzer (62) über Corona-Leugner, Fehler der Klima-Wissenschaftler und die geniale Taktik von Donald Trump.
Publiziert: 31.10.2020 um 14:46 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2020 um 11:01 Uhr
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Der Sozialpsychologe Harald Welzer im Interview.
Foto: Daniel Hofer/laif
Interview: Rebecca Wyss

Eigentlich wäre Harald Welzer kürzlich in die Schweiz gereist. Im Generationenhaus in Bern hätte der bekannte deutsche Soziologe einen Vortrag zur Lage der Generationen halten sollen. Wegen Corona sagte er die Veranstaltung ab. Wir liessen uns nicht abschrecken und führten das Gespräch über Skype – mit einigen Unterbrechungen, weil unser WLAN im Homeoffice Mätzchen machte oder weil Welzers Katze auf dem Bücherregal hinter ihm herumkletterte. Überhaupt fing es schon abenteuerlich an: mit einem schwarzen Bildschirm.

Harald Welzer: Oh, ich muss zuerst den Klebestreifen über der Kamera entfernen.

Guten Tag Herr Welzer!
Hallo! Ich sehe Sie nur verpixelt.

Ich sehe Sie gut.
Wie schön für Sie!

Sie haben wegen Corona eine Veranstaltung in der Schweiz abgesagt.
Bei Ihnen steigen die Zahlen so stark, das Risiko kann ich nicht eingehen. Als ich vor einigen Monaten das letzte Mal da war, trug ja wirklich kaum jemand eine Maske.

Der Universalgelehrte

Harald Welzer (62) ist das, was man früher Universalgelehrten nannte. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft, habilitierte sich in Sozialpsychologie und Soziologie. Seine Forschungsthemen sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung. Er ist Direktor der Stiftung Futurzwei, Professor für Transformationsdesign in Flensburg (D) und lehrt Sozialpsychologie an der HSG. Gerade ist von ihm das Buch «Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde» erschienen. Harald Welzer lebt mit seiner Familie in Berlin.

Daniel Hofer/laif

Harald Welzer (62) ist das, was man früher Universalgelehrten nannte. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft, habilitierte sich in Sozialpsychologie und Soziologie. Seine Forschungsthemen sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung. Er ist Direktor der Stiftung Futurzwei, Professor für Transformationsdesign in Flensburg (D) und lehrt Sozialpsychologie an der HSG. Gerade ist von ihm das Buch «Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde» erschienen. Harald Welzer lebt mit seiner Familie in Berlin.

Ganz oben auf meinem Notizblock steht in Grossbuchstaben: «Er hat kein Smartphone!» Sie sind ein Zukunftsforscher. Ist das nicht ein Widerspruch?
Ich sehe da keinen Widerspruch. Diese Geräte sind totale Zeitfresser und die Gestapo in der Hosentasche. Alle meine Bekannten haben weniger Zeit als ich, weil sie so stark mit ihrem Smartphone beschäftigt sind. Die Grenze wird dann da sein, wo ich ohne Smartphone gar nichts mehr machen kann. Ich kann mir heute kein öffentliches Fahrrad in der Stadt nehmen. Einstweilen verkrafte ich das noch.

Da wären wir beim Verzichten. Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um Pflöcke für die Zukunft einzuschlagen?
Nein. Die Auswirkungen der Corona-Krise sind so gravierend, dass die meisten sich einfach nur wünschen, dass alles wieder so wird wie vorher. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass es bei den Bestelleingängen der deutschen Wirtschaft ganz toll aussieht. Das zählt derzeit. Mit so scheinbar luxuriösen Anliegen wie einer vernünftigen Klimapolitik steht man weit hinten eingereiht.

Seit Frühling ist oft die Rede von Solidarität, vielleicht können wir davon etwas in die Zeit danach retten.
Es gibt nicht plötzlich mehr Solidarität. In einer Krisensituation ist jeder Einzelne immer darauf bedacht, dass er möglichst gut wegkommt. Die Klatsch-Aktionen für das Pflegepersonal waren nett, aber mehr Geld und bessere Arbeitszeiten folgten deshalb nicht daraus. So selbstlos war die Aktion auch nicht. Man gefällt sich darin, für die Krankenschwestern zu klatschen.

Gibt es gar nichts, das von Corona bleiben wird?
Doch, Homeoffice. In Bereichen wie Architektur oder Journalismus glaubte man immer, dass man vor Ort sein müsse, um diskutieren zu können, weil es doch um kreative Prozesse geht. Jetzt sind alle total erstaunt, dass sogar komplexe Arbeitsprozesse von zu Hause aus erledigt werden können.

Klima-Krise, Demokratie-Krise, Corona-Krise – ständig wird der Weltuntergang ausgerufen. Wie finden Sie das?
Weltuntergangswarnungen sind bescheuert. Wir haben unbestritten ein riesiges Problem mit dem Klimawandel. Ich habe aber grosse Schwierigkeiten mit der Apokalypse-Erzählung. Was folgt denn daraus? Die Klimawissenschaftler antworten immer gleich: Wir müssen jetzt das CO2 reduzieren.

Sie versuchen es mit einem Weckruf.
Dieser Weckruf ist älter als Sie, Frau Wyss. Jeden Tag kommt ein neuer Weckruf. Kein Wunder. Die Klima-Szene ist naturwissenschaftlich dominiert, die verstehen nichts von Psychologie. Früher dachten die gleichen Leute immer, wenn die Folgen erst einmal für alle sichtbar sind, dann – nichts ist dann. In der Schweiz schmelzen die Gletscher, in den USA brennt ganz Kalifornien.

Was wäre psychologisch schlauer?
Man muss den Leuten Utopien anbieten. Nehmen wir die Schweiz. Ein vernünftiges ÖV-System ist topografisch eine ziemliche Herausforderung, und trotzdem schaffen die Schweizer es, dass Bus, Bahn und Schiff aufeinander abgestimmt sind und pünktlich fahren. In Deutschland haben wir das nicht. Ich bin heute mit dem Zug gefahren, der war tatsächlich «nur» zehn Minuten verspätet. Deutschland könnte sich das Schweizer ÖV-System als Vorbild nehmen und vielleicht sogar eines entwerfen, das noch besser ist. Dann hätten wir ein Land, in dem man keine Autos mehr braucht. Dann hätten wir weniger Tote, weniger Lärm, mehr Fläche.

Sie haben einmal Jugendliche nach deren Utopien gefragt. Was kam dabei heraus?
Wir führten Gruppengespräche. Wenn jemand aus der Gruppe sagte: «Es wäre toll, wenn …», dann sagte der Nächste gleich, das könne man doch gleich vergessen. Die Jugendlichen haben das Träumen verlernt. Das spiegelt die öffentliche Debatte. Die handelt ja davon, dass alles schlecht ist und nichts funktioniert. Wo soll denn dann der Mut herkommen, sich eine bessere Welt vorzustellen?

Die jungen Klimaaktivisten haben ihn offenbar. Vor kurzem besetzten sie den Berner Bundesplatz. Braucht es zivilen Ungehorsam, um etwas zu erreichen?
Es braucht immer zivilen Ungehorsam. Die «Fridays for Future» haben in so kurzer Zeit das Thema Klima auf die Agenda gesetzt, wie es Umweltwissenschaftler und NGOs nie geschafft hatten. Sie wären nicht so erfolgreich gewesen, wenn sie ihre Aktionen am Wochenende gemacht hätten. Dass sie die Schule für ihre Aktionen schwänzen, empört und verschafft ihnen Aufmerksamkeit.

Haben Sie schon mal gegen ein Gesetz verstossen?
Ich mache immer nur das, was mir gesagt wird.

Das glaube ich Ihnen nicht.
Gut, meine politische Biografie beginnt mit der Anti-Atomkraft-Bewegung. Wir haben Bahnstrecken besetzt oder auf Baustellen gegen AKW demonstriert. Und Sie?

Für die Frauen.
Was? Ich höre Sie nur abgehackt, da setzt Skype gleich aus. (lacht)

Wir hören ihn gut, er uns nicht. Deshalb tippen wir ab jetzt die Fragen als Direktnachricht in den Skype-Chat. Und er antwortet uns nach wie vor per Video.

Ich habe am Frauenstreik teilgenommen. Wir leben in Zeiten, in denen viele verschiedene Gruppen ihre Interessen anmelden. Wie steht es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Wir haben eine Verwahrlosung der demokratischen Kultur. Demokratie funktioniert nur dann, wenn die Bürger das Gefühl haben, dass sie Teil von etwas sind, von dem die anderen auch Teil sind. Der Gesellschaft fehlt eine gemeinsame Vision. Der Zerfall verstärkt sich, wenn die Führung eine inkonsistente Politik betreibt. Weil die Bundesländer oder Kantone unterschiedliche Corona-Regeln verkünden, erscheint es für manche schwierig, sich an die Regeln zu halten.

Verschwörungstheorien und Fake-News sind beliebt, hängt das mit dem fehlenden Zusammenhalt zusammen?
Ja, auch. Und damit, dass es wegen des Internets konkurrierende Informationsquellen gibt. Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Neulich war ich in einem Tankstellenshop, ein Mann trug keine Maske. Ein Angestellter wies ihn auf die Maskenpflicht hin. Der Typ hat dann einen riesigen Aufstand gemacht: Wir hätten alle keine Ahnung, hinter Corona stecke eine abgekartete Geschichte. Gleichzeitig redeten sechs Leute auf ihn ein, er erzähle Mist. Was mir auffiel: Je mehr man ihm widersprach, umso mehr ereiferte er sich. Das gabs früher nicht.

Warum nicht?
Früher glaubte so einer, er sei mit seiner Meinung in der Unterzahl. Dieser Mann aber dachte, er habe eine Menge von Menschen hinter sich, nur weil er im Netz schnell Gleichgesinnte findet.

Ist es wirklich eine Minderheit, die so denkt wie er?
Umfragen zeigen, dass 80 bis 90 Prozent der Leute den Corona-Massnahmen zustimmen.

In den USA hat die PR-Beraterin von Donald Trump für seine Lügen den Begriff «alternative Fakten» erfunden. Warum kommt er damit durch?
Was Trump macht, ist sehr klug. Je beharrlicher ein Machthaber lügt, je mehr «alternative Fakten» er ins Spiel bringt, desto mehr entwertet er die geprüften Fakten. Am Ende suchen sich die Leute jene Informationen aus, die ihnen dienen. Dann kommt man auf die wahnsinnige Idee, dass es unter dem Central Park unterirdische Anlagen gibt, wo Kindern das Blut ausgesaugt wird. Lügen sind ein machtvolles politisches Mittel. Das hat die TV-Debatte zwischen Joe Biden und Trump gezeigt.

Inwiefern?
Als Trump über Bidens Sohn sagte, er sei drogensüchtig gewesen, war Biden völlig wehrlos. Er konnte immer nur sagen: Das ist gelogen. Den Zuschauern bleibt im Gedächtnis, was Trump sagte, auch wenns nicht stimmt.

Unterschätzen wir Trump?
Trump ist kein Idiot, sondern ein Typ, der gezielt unsere Form von Staatlichkeit zerstören möchte. Das macht er auf eine geniale Weise, und die bleibt so lange genial, wie die Gegenseite nicht merkt, was vor sich geht.

Wir haben eine letzte Frage. Diese kommt aber im Skype-Chat nicht mehr durch. Das versuchen wir ihm umständlich übers Video klarzumachen.

Harald Welzer: Ach so. Ha! Ich will ja gar nichts mehr antworten. (lacht) Diese Machtposition nutze ich jetzt aus und schweige. Hat mich gefreut!

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