Es könnte so schön sein: gelockerte Massnahmen, sinkende Infektionszahlen und steigende Impfquoten. Die Corona-Krise scheint in der Schweiz unter Kontrolle – wäre da nicht die Delta-Variante. Sie ist deutlich ansteckender als das ursprüngliche Coronavirus.
Besonders in Grossbritannien und Israel sorgt Delta trotz Impfungen für explodierende Infektionszahlen. Gerade die Meldungen aus dem Impf-Vorzeigeland Israel sind erschreckend. Die Wirksamkeit des Biontech-Vakzins hat in den vergangenen Wochen deutlich nachgelassen. Noch im Februar hiess es, dass die Impfung zu 95,8 Prozent vor einer Corona-Erkrankung schützt. Jetzt sind es nur noch 64 Prozent.
Immerhin: Obwohl die Infektionszahlen durch Delta in die Höhe schnellen, auf die Hospitalisierungen und Todesfälle hat dies kaum einen Einfluss. Es gibt also zwar mehr Fälle, die schweren Verläufe bleiben aber aus. Grund genug für die Briten, die Corona-Massnahmen zu beenden. Ab dem 19. Juli sind Homeoffice, Maskenpflicht und Abstandsregeln passé. Israel nimmt Delta dagegen nicht auf die leichte Schulter. Dort werden die Massnahmen wieder verschärft.
Delta kann zu schwereren Verläufen führen
Auch in der Schweiz breitet sich die Delta-Variante weiter aus. Der Anteil der Delta-Variante habe sich bisher jede Woche verdoppelt, erklärte Martin Ackermann (50), Präsident der nationalen Corona-Taskforce, am Dienstag. Was aber bedeutet dies für die Schweiz?
«Die Delta-Variante ist zweifellos ernst zu nehmen, weil sie sich deutlich leichter ausbreitet, möglicherweise zu mehr schwereren Krankheitsverläufen führt und die Wirksamkeit von Impfungen verringern kann», sagt der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen (60) zu Blick. Auch im Bericht der Taskforce heisst es, «dass die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisation oder eines Todesfalls nach einer Infektion mit Delta etwa um 50 Prozent oder mehr erhöht ist» im Vergleich mit anderen Mutationen.
Droht damit eine Überlastung der Schweizer Spitäler, wenn sich die Variante weiter ausbreitet? Nein, sagt der Tessiner Infektiologe Andreas Cerny (64): «Wir erwarten trotzdem weniger Todesfälle und Hospitalisierungen, weil im Moment vermehrt jüngere Personen infiziert werden und weil die abgeschlossene Impfung Risikopatienten schützt.»
Jeder Piks ist ein weiterer Schritt im Kampf gegen die Pandemie
Weshalb die Variante so viel ansteckender ist, wird gerade erforscht. Bislang gehen die Wissenschaftler davon aus, dass Mutationen am Spike-Protein dafür verantwortlich sind. Im Klartext: Die Variante kann sich besser tarnen und so unser Immunsystem austricksen. Und nicht nur das: Auch gegen die Impfung ist Delta besser gewappnet als seine Vorgänger. «Sie trägt, gerade im Bereich, wo unsere Antikörper ans Virus andocken und es neutralisieren, Mutationen, welche dazu führen, dass wir etwas mehr Antikörper benötigen, um effektiv geschützt zu sein», erklärt Cerny.
Der Piks verliert damit aber nicht an Bedeutung. Im Gegenteil: Noch nie war das Impfen so wichtig wie jetzt. «Im Hinblick auf die Delta-Variante gewinnt das Impfen zusätzlich an Bedeutung. Denn ersten Hinweisen zufolge verhindern die mRNA-Vakzine schwere Krankheitsverläufe auch bei der Delta-Variante, sofern die Leute auch vollständig geimpft sind. Das zeigen die Zahlen aus Grossbritannien und Israel. Das sind gute Neuigkeiten», so Jan Fehr (48), Infektiologe an der Universität Zürich, zu Blick.
Allerdings dürfte die Schweiz bei den Impfungen jetzt nicht nachlassen.
Der gleichen Meinung ist auch der Basler Kantonsarzt. «Mit jeder Impfung können wir uns aktiv besser schützen und helfen, dass die Viren sich nicht weiter ausbreiten», so Steffen zu Blick. Jeder Piks sei ein weiterer Schritt im Kampf gegen die Pandemie.
Hier könnte Israel wieder zum Vorzeigeland werden. So wird dort gerade diskutiert, ob Geimpfte schon bald eine Impf-Auffrischung erhalten, wenn ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf besteht.
Ein weiterer Lockdown kann verhindert werden
Während die Briten rigoros öffnen, werden die Massnahmen in Israel verschärft. Und die Schweiz? Droht gar der nächste Lockdown? Grundsätzlich könne man die Situation in der Schweiz nicht mit der in Grossbritannien oder Israel vergleichen, erklärt Pierre-Yves Bochud, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie.
Die beste Strategie sei das Fortführen der Durchimpfung, um gut auf den Herbst vorbereitet zu sein. Denn dann dürften die Zahlen wieder deutlich ansteigen. Ein weiter Lockdown könnte dann verhindert werden. Bochud: «Je höher die Zahl der geimpften Menschen ist, desto grösser sind die Chancen, die Pandemie und die Entstehung neuer (möglicherweise noch besser übertragbarer) Varianten zu kontrollieren.» Auch Jan Fehr und Thomas Steffen sind zuversichtlich, dass ein weiterer Lockdown nicht mehr notwendig sein wird, wenn es mit den Impfungen vorangeht.
«Bislang haben wir einen guten Vorsprung, den wir nicht verspielen sollten. Wir müssen einfach noch etwas durchhalten. Denn Corona ist noch nicht vorbei», so Fehr. Die übrigen Massnahmen aufzuheben wie in Grossbritannien, sei übereilt. Der Zürcher Infektiologe zu Blick: «Für eine Rückkehr des Händeschüttelns ist es noch zu früh.»
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