Sexuelle Belästigung in den SBB
Zugchef zur Lokführerin: «Jetzt seh ich deinen Knackarsch»

Gemäss einer internen Umfrage sind in den letzten zwei Jahren über 1400 SBB-Mitarbeitende sexuell belästigt worden. Das Unternehmen gelobt Besserung: Es gelte Nulltoleranz.
Publiziert: 08.09.2024 um 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 08.09.2024 um 12:12 Uhr
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Vier Prozent aller SBB-Mitarbeitenden geben an, in den letzten zwei Jahren sexuell belästigt worden zu sein. Viele Vorfälle passieren im Lokführerstand ...
Foto: Keystone

Auf einen Blick

  • SBB-Mitarbeiterinnen häufig von sexueller Belästigung betroffen
  • Vor allem Lokführerinnen und der Bereich SBB-Infrastruktur sind betroffen
  • Hohe Dunkelziffer erwartet
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Ein Zugchef fragt eine Lokführerin am Telefon: «Bist du schon da?» Die Frau antwortet, sie sei gleich in der Lok. Der Chef: «Ah, jetzt sehe ich deinen Knackarsch.»

In einem Pausenraum besprechen Lokführer «Techniken», wie man Frauen im Führerstand näherkommt: Man soll den angehenden Lokführerinnen zeigen, wie eine Bremse zu bedienen ist. Da der Ausbildner rechts steht und die Bremse links ist, lässt sich beim Rübergreifen die Brust der Frau streifen. Versehentlich, natürlich.

Frauen, die sich gegen Avancen oder dumme Sprüche wehren, werden ausgelacht. Es kommen Sprüche wie: «Hast du etwa deine Tage?»

Solche Schilderungen erreichen Esther Weber (47) immer wieder. Sie verraten viel darüber, wie es in einzelnen Bereichen der Schweizerischen Bundesbahnen hergehen kann. Weber spricht von einer «Stammtischkultur» im Lokführerzimmer. Männer versuchten sich gegenseitig mit frauenfeindlichen Sprüchen zu übertrumpfen.

Esther Weber ist Fachgruppenleiterin Frauen des Lokpersonalverbands und selbst Lokführerin. In ihrer Position hat sie vor allem mit Fällen sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt zu tun. Ihre Einschätzung: «Die interne sexualisierte Gewalt gegenüber dem Lokpersonal ist erschreckend.» 

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Unangebrachte Sprüche kämen häufig vor, auch sexuelle Belästigung sei verbreiteter als gedacht. Ausser dummen Sprüchen und unerwünschten Berührungen kämen anzügliche Nachrichten aufs Diensthandy. Die Zumutungen sind unter dem Lokpersonal offenbar derart verbreitet, dass sie für gewisse schon zum Alltag gehören: «Eine betroffene Frau sagte mir, das sei halt normal, das gehöre dazu.»

Frauen sind deutlich häufiger betroffen

Ende letzten Jahres haben die SBB alle 35'000 Mitarbeitenden zum Thema Diskriminierung, Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz befragt. Rund die Hälfte aller Mitarbeitenden haben geantwortet. Die Ergebnisse: Zwölf Prozent der Befragten haben von Diskriminierung berichtet, sieben Prozent von Mobbing und vier Prozent von sexueller Belästigung. Das schreiben die SBB in einer internen Mitteilung von diesem Frühling. 

Frauen erfahren deutlich häufiger Diskriminierung und sexuelle Belästigung, während beim Mobbing kein Geschlechterunterschied erkennbar ist.

Recherche-Hinweise

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Vier Prozent – das sind 1400 SBB-Mitarbeitende – wurden in den erfragten vergangenen zwei Jahren bei der Arbeit sexuell belästigt. Gemäss einer informierten Person sollen zwölf Prozent aller Frauen angegeben haben, sexuell belästigt worden zu sein – hochgerechnet wären das 800 betroffene Frauen.

Die detaillierten Zahlen der Mitarbeitendenumfrage hält die SBB-Führung bisher unter Verschluss – aktuell erfolge eine vertiefte Auswertung der Ergebnisse, teilen die SBB mit. Blick liegt ein Teil der Umfrageergebnisse vor. 

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Dass die genauen Ergebnisse nicht kommuniziert werden, sorgt im SBB-Intranet für Kritik. «Eine transparente Kommunikation ist entscheidend, um Bewusstsein zu schaffen und Sensibilität für diese Themen zu fördern», schreibt beispielsweise eine Person. 

Probleme im Führerstand

Die Umfrage, so steht es in der internen Mitteilung, zeige auch, dass es Bereiche und Berufsgruppen gibt, in denen erhöhter Handlungsbedarf besteht. Hohe Negativwerte erhielt gemäss einer Quelle der Bereich Infrastruktur, in dem mehr als 10'000 Angestellte beispielsweise auf den Gleisen oder im Tunnelbau arbeiten. Dass in manchen Werkstätten noch Pin-up-Kalender hängen, zeigt, dass es punkto Kulturwandel in dieser Branche noch Nachholbedarf gibt.

Häufig kommt es im Führerstand zu unangenehmen Situationen. Esther Weber vom Verband des Lokpersonals: «Die Lokführer können die Enge und das Unbeobachtetsein ausnutzen und den meist jüngeren Frauen auch körperlich näherkommen.» 

Häufig würden sich die Frauen nicht wehren. Zumal die Anonymität oft nicht gewahrt werden könne: «Da wir wenige Frauen sind, ist es für viele schwierig, Meldungen zu machen, da oft Rückschlüsse auf die Person gemacht werden können.» Dann könne es vorkommen, dass der beschuldigte Lokführer über die Kollegin herziehe, sie vor den anderen Männern schlechtmache. Bei den Lokführerinnen und Lokführern liegt der Frauenanteil bei nur sieben Prozent – insgesamt sind es bei den SBB knapp 20 Prozent.

Strenge Vertraulichkeitsklausel

Bei Betroffenen für Kritik sorgt auch eine strenge Vertraulichkeitsklausel, die Mitarbeitende unterschreiben müssen, damit sie einen Meldeprozess starten können. Diese untersagt es Betroffenen, sich über das Geschehene auszutauschen – dies, damit die Unschuldsvermutung für Beschuldigte gewährleistet werden kann.

Die Juristin Nicole Vögeli Galli (55) kritisiert die Klausel der SBB. Einer SBB-Angestellten dürfe nicht verboten werden, sich mit engen Kontakten oder im Rahmen einer Rechtsberatung über sexuelle Belästigung auszutauschen. Laut der ZHAW-Dozentin für Arbeitsrecht würde es ausreichen, wenn die SBB auf die allgemeinen Gesetze verweisen würden.

«Wir nehmen unsere Fürsorgepflicht sehr ernst»

Auf dem Papier geben sich die SBB als Vorzeigeunternehmen. Es gibt ein Frauennetzwerk und sogar ein «SBB QueerNet» für Mitarbeitende aus der LGBTQ-Community. Doch zur Umfrage wollen sich weder Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar (64) noch CEO Vincent Ducrot (61) äussern.

Stellung nimmt Personalchef Markus Jordi (63). Auf spezifische Einzelfälle könne man aus Persönlichkeits- und Datenschutzgründen nicht eingehen. Nur so viel: «Die geschilderten Fälle verstossen alle gegen den Verhaltenskodex der SBB. Ich verurteile solches Verhalten in aller Schärfe.» Man gehe jedem gemeldeten Fall nach, es gelte Nulltoleranz. Wenn sich Vorwürfe bestätigten, würden Massnahmen eingeleitet. Dies könne bis zu einer Kündigung des Angeschuldigten führen. Die SBB prüften zudem immer, ob Strafanzeige erhoben werden muss.

Den Vorwurf, die SBB unternähmen zu wenig, weist Jordi zurück: «Als Arbeitgeberin nehmen die SBB ihre Fürsorgepflicht in dieser Thematik sehr ernst.» Bereits 2021 hätten die SBB ihre Prozesse zum Umgang mit Diskriminierung, Mobbing und sexueller Belästigung extern überprüfen lassen. Nun habe es eine Umfrage gegeben. «Die Durchführung einer solchen Befragung ist weder vorgeschrieben noch allgemein üblich. Wir setzen damit klare Zeichen.» 

Sowohl die Konzernleitung als auch der Verwaltungsrat der SBB hätten sich mit den Ergebnissen auseinandergesetzt und klar zum Ausdruck gebracht, dass alles unternommen werden müsse, um Grenzüberschreitungen zu vermeiden. Weitere Sensibilisierungsmassnahmen seien in Arbeit, sie würden demnächst umgesetzt.

«Resultate im Schweizer Durchschnitt»

Die SBB betonen, dass die Ergebnisse im schweizerischen Durchschnitt liegen und den Ergebnissen internationaler Studien entsprechen. Ein direkter Vergleich ist jedoch schwierig, da bei den zugezogenen Studien entweder ein anderer Kontext oder Zeitraum angeschaut wurde. Eine schweizweite Studie zum Ausmass sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist erst für Ende dieses Jahres geplant. 

Dass die SBB von sich aus eine umfassende Umfrage in Auftrag gegeben haben, begrüssen die Gewerkschaften – auch Esther Weber: «Der grösste Teil der Kollegen verhält sich tadellos, und die Arbeit macht grundsätzlich Freude.» Trotzdem sei jeder Vorfall einer zu viel. Ihr fehlen bis jetzt konkrete Schritte, wie die SBB auf die Umfrage reagieren wollen. «Es braucht eine bessere Sichtbarkeit, dass solche Handlungen nicht erlaubt sind.»

Hohe Dunkelziffer vermutet

Die SBB teilen mit: «Trotz aller Bemühungen können wir nicht völlig ausschliessen, dass es bei über 35'000 Mitarbeitenden in über 150 Berufen vereinzelt zu Grenzüberschreitungen kommt.» Fakt sei, schreibt Jordi, dass viele Fälle nicht gemeldet werden. 

Tatsächlich unterscheiden sich die Umfrageergebnisse deutlich von den Zahlen im letzten Geschäftsbericht. Für 2023 sind lediglich 36 Meldungen von sexueller Belästigung ausgewiesen. Wie Blick weiss, kam es in mindestens einem Fall in diesem Jahr zu einer Entlassung. Genaue Zahlen wollen die SBB nicht bekannt geben.

Personalchef Jordi: «Die hohe Dunkelziffer ist leider auch ein Abbild der Gesellschaft. Teilweise fürchten sich Opfer vor negativen Konsequenzen, wenn sie sich melden. Das darf nicht sein. Da haben wir als Gesellschaft noch viel zu tun.»

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