Schrebergärten ringen ums Überleben
«Wir kämpfen bis zum Letzten»

In Brügg BE sollen Schrebergärten wegen einer Überbauung verschwinden. Es ist kein Einzelfall: Die Schweizer Gartensiedlungen geraten im Kampf um Landreserven immer stärker unter Druck. Doch es gibt Hoffnung.
Publiziert: 16.03.2024 um 20:05 Uhr
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Aktualisiert: 27.03.2024 um 19:59 Uhr
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Grüne Oase an der Aare: Die Schrebergärten in Brügg BE sollen einem Uferpark für die Bevölkerung Platz machen.
Foto: Linda Käsbohrer
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Lino SchaerenRedaktor

Sie sind eine grüne Oase am Ufer der Aare: die 113 Schrebergärten in Brügg im Berner Seeland. Beatrice Pulfer (77) läuft über das Areal, vorbei an akkurat angelegten Beeten und schmucken Häuschen, sie zeigt auf Wintersalat und Puffbohnen. Die Gartensaison hat begonnen – doch Freude will bei der Präsidentin des Pächtervereins nicht aufkommen. Es gibt Ärger im Gartenparadies: Die Schrebergärten in Brügg müssen wegen einer Überbauung weg.

Ein Schock sei diese Nachricht gewesen, sagt Pulfer, «eine Katastrophe». Die Vereinsmitglieder protestieren und mobilisieren, doch auch eine Petition mit rund 4000 Unterschriften hat am Schicksal nichts geändert. Zu gross ist das öffentliche Interesse am Gartenstandort. Gleich nebenan ist der Bau eines Spitals für rund 200 Millionen Franken geplant. Mit der Ansiedlung will die Gemeinde anstelle der Familiengärten ein grosses Naherholungsgebiet für die Bevölkerung finanzieren. Das kommt bei den Bürgerinnen und Bürgern an, aufgeben kommt für die Gärtnerinnen aber nicht in Frage. Beatrice Pulfer: «Wir lassen uns hier nicht einfach vertreiben.»

Der Überlebenskampf der Brügger Familiengärten steht beispielhaft für das schweizweite Ringen um die letzten Landreserven im städtischen Raum. Der Druck auf die Schrebergärten ist über Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen, an ihrer Stelle werden vermehrt Wohnblocks oder öffentliche Infrastruktur gebaut. «Die Nutzungskonflikte nehmen zu», sagt Otmar Halfmann (71), Präsident des Schweizer Familiengärtner-Verbandes. Offizielle Statistiken gibt es zwar nicht, der Trend ist aber auch für Nicole Bauer (53) von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) offensichtlich. «Verdichtung ist für Familiengärten ein Risikofaktor», sagt sie.

Nachfrage nach Schrebergärten ist riesig

Für die Gartenvereine ist die Situation paradox. Sie werden durch die Raumplanung bedrängt, während sie gleichzeitig als grüne Kontrapunkte zum hektischen Stadtleben immer wichtiger werden. Die Nachfrage in der Bevölkerung ist riesig: Wer einen Schrebergarten pachten will, wartet in aller Regel mehrere Jahre. Bünzlitum war gestern: Gärtnern ist gerade bei jungen Familien hip geworden.

Auch bei den grossen Städten hat laut Halfmann ein Umdenken stattgefunden. Seit der Klimawandel und die Artenvielfalt auf der politischen Agenda mehr Gewicht haben, sei die Unterstützung für die Kleingärten wieder grösser geworden, sagt er – etwa indem nach Ersatzstandorten gesucht werde. Die Städte tragen damit der Biodiversität Rechnung: Untersuchungen zeigten, dass die Artenvielfalt in Schrebergärten bedeutend grösser sei als in Hausgärten, sagt Umweltpsychologin Nicole Bauer. Und: «Familiengärten werden als erholsamer empfunden als Gärten rund ums eigene Haus.»

Woher kommt der Begriff Schrebergarten?

Die Schrebergärten sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Leipziger Pädagogen Daniel Gottlob Moritz Schreber benannt worden. Der Begriff hat sich daraufhin im ganzen deutschsprachigen Raum etabliert. Er ist noch heute geläufig. Weil die pädagogischen Konzepte Schrebers heute kritisch gesehen werden, ist inzwischen in der Schweiz auch die Bezeichnung «Familiengärten» weitverbreitet.

Die Schrebergärten sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Leipziger Pädagogen Daniel Gottlob Moritz Schreber benannt worden. Der Begriff hat sich daraufhin im ganzen deutschsprachigen Raum etabliert. Er ist noch heute geläufig. Weil die pädagogischen Konzepte Schrebers heute kritisch gesehen werden, ist inzwischen in der Schweiz auch die Bezeichnung «Familiengärten» weitverbreitet.

Doch wie sollen die Schrebergärten bei schwindender Fläche und gleichzeitig steigender Nachfrage künftig organisiert werden? An dieser Frage scheiden sich die Gartengeister. Das klassische Modell mit grosszügigen privaten Parzellen, Häuschen, Sitzecke und Grill scheint immer stärker aus der Zeit gefallen. Die jüngeren Generationen setzen stattdessen vermehrt auf gemeinsames Gärtnern. Familien schliessen sich mit anderen zusammen, so bleibt der Zeitaufwand im Schrebergarten neben den weiteren Hobbys überschaubar.

Behörden liessen richtiggehende Ferienhaussiedlungen zu

Für viele Alteingesessene, die praktisch ihre ganze Freizeit im Schrebergarten verbringen, ist es hingegen ein schwerer emotionaler Schlag, wenn das eigene Freizeitparadies plötzlich infrage gestellt wird. Besonders radikal passiert dies derzeit in Zürich: Hier wollen SP und Grüne die privaten Familiengärten ganz abschaffen, zugunsten von Freiflächen für die Öffentlichkeit. Ganz nach dem sozialdemokratischen Motto: Für alle statt für wenige.

Otmar Halfmann gibt den Behörden eine historische Mitschuld dafür, dass es immer wieder zu Kontroversen rund um die Gartenareale kommt. Sie hätten es über Jahrzehnte zugelassen, dass aus den Selbstversorger-Gemüsegärten richtiggehende Ferienhaussiedlungen geworden seien. Es sei nur logisch, dass diese mit allen Mitteln verteidigt werden, sagt der oberste Schrebergärtner. Einfach so rückgängig machen liessen sich die Fehler aus der Vergangenheit nicht. Halfmann fordert, dass die Behörden ihre soziale Verantwortung wahrnehmen, wenn ein Gartenareal auf der Kippe steht. «Statt in einer Experten-Blase zu planen, sollten die Gartenvereine rechtzeitig einbezogen werden, dann gibt es auch nicht so ein Geschrei», sagt er. Von den Gartenvereinen erwarte Halfmann gleichzeitig, nicht in Gewohnheiten zu verharren. «Wir können nicht jedes Häuschen und jeden Pizzaofen heiligsprechen.»

Bevölkerung stimmt ab

Brügg im Berner Seeland ist für den Verbandspräsidenten ein Paradebeispiel dafür, wie die Umnutzung eines Schrebergartens nicht angegangen werden sollte. Hier wurden Pulfer und ihre Mitstreitenden vor vollendete Tatsachen gestellt: Die Gemeinde will die Gärten in den neuen Uferpark integrieren, allerdings in radikal neuer Form. Statt private Parzellen mit Gartenhäuschen soll es einen grossen Gemeinschaftsgarten geben. Für Beatrice Pulfer ist das undenkbar. «Da gibt es keine Privatsphäre mehr», sagt sie. Otmar Halfmann kann über das Vorgehen nur den Kopf schütteln: «Statt mit Architekten ein neues Areal zu zeichnen, hätte man bereits vor Jahren gemeinsam mit den Familiengärtnern neue Konzepte entwickeln sollen.»

Stattdessen schlägt Pulfer nun vor, die heutige Form des Schrebergartens beizubehalten, aber das Areal zugunsten des Naherholungsgebiets zu verkleinern. So hofft sie doch noch auf ein Entgegenkommen der Behörden. Demnächst sei noch einmal eine Aussprache angesetzt, sagt Beatrice Pulfer. Kommt es zu keiner Einigung, geht der Konflikt weiter. «Wir kämpfen wenn nötig bis zum Letzten», so die Vereinspräsidentin. Im Herbst stimmt die Bevölkerung der Gemeinde mit rund 4500 Einwohnenden über den Spitalneubau und den Uferpark ab, die das Ende der heutigen Schrebergartensiedlung bedeuten würden. Für den Fall, dass das Mega-Projekt in der vorgesehenen Form grünes Licht erhält, kündigt Pulfer bereits heute an, dass der Gartenverein juristisch gegen die Baubewilligung vorgehen werde. «Wir wollen bleiben», sagt sie. Und sei es auch nur ein wenig länger.

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