Wir fläzen uns in Jogginganzug und Hausschuhen vor den Laptop, absolvieren unseren täglichen Konferenzmarathon vor einer PC-Kamera, die das Doppelkinn aus der Froschperspektive überträgt und gnadenlos ungeschminkte Krähenfüsse zeigt: Seit Monaten stellt Corona unser Modebewusstsein infrage und macht unsere Beauty-Routine sinnlos.
Das weiss auch die Textilindustrie. Catherine Westphal, Sprecherin des Onlinehändlers Zalando, bestätigt, dass sich das Kaufverhalten seit Beginn der Pandemie deutlich verändert hat: «Wir verkaufen im Vergleich zum letzten Jahr doppelt so viele Sweatshirts und Jogginghosen. Die Sockenverkäufe haben sich ebenfalls verdoppelt, besonders farbenfrohe Paare sind beliebt.»
Im Zweifelsfall wählen wir offenbar bequemere Varianten: Wer braucht schon High Heels, wenn alle Clubs geschlossen sind? In der Kategorie Schuhe avancierten Finken zum Bestseller. Bei H&M sind relaxte Outfits für zu Hause ebenfalls heiss begehrt, wie eine Sprecherin auf Anfrage mitteilt. So sehr, dass der schwedische Modehändler auf seiner Website spezielle Tipps und Inspirationsquellen für «Homeoffice Outfits» anbietet.
Das Zuhause wird zum Wellnesstempel
Wohnzimmer werden zur Wohlfühlzone, Badezimmer mutieren zu Schönheitstempeln: Zalando erhält dreimal so viele Bestellungen für Haut-, Nagel- und Haarpflegeprodukte wie letztes Jahr. Insbesondere Detox-Artikel, Kerzen und Gesichtsmasken sind begehrt. Den Trend zum Wellnessprogramm in den eigenen vier Wänden spürt auch das Kosmetik-Imperium Estée Lauder Companies. Maike Kiessling, General Manager: «Unsere Kunden kaufen mehr Pflegeprodukte wie Gesichtscremes und Seren. Wir hören immer wieder von ihnen, dass sie sich in dieser aussergewöhnlichen Situation gerne etwas Gutes tun möchten, und im Homeoffice ein bisschen mehr Zeit haben, um sich zu pflegen.»
Wer fast ausschliesslich zu Hause sitzt, braucht allerdings weniger Make-up. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen zeigt: Die Umsätze bei Schminkprodukten sind eingebrochen – rund um die Welt. Das Beratungsunternehmen McKinsey schätzt, dass sich die Schönheitsindustrie im Jahr 2020 global fast ein Drittel der Einnahmen abschminken muss. Der Schweizerische Kosmetikverband rechnet hierzulande mit einer ähnlich unattraktiven Tendenz. Insbesondere die Lippen bleiben derzeit im Naturzustand: Unter der Maske sieht man sie ja nicht. Der Verkauf von Lippenstiften ist laut einer Umfrage von SonntagsBlick bei Estée Lauder Companies, Jelmoli und Coop City rückläufig. Dafür steht die obere (unbedeckte) Gesichtspartie im Fokus: Wimperntusche, Kajal und Augenbrauenstift finden reissenden Absatz.
Das Äussere zählt in der Corona-Ära weiterhin: Statt auszugehen, verbringen viele Schweizer Zeit vor der Kamera – und erkennen im eigenen, grell ausgeleuchten Videobild ihre Makel. Mark Nussberger, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie, berichtet vom sogenannten«Zoom-Face», ein Thema, über das in entsprechenden Foren rege diskutiert wird: «Viele meiner Kunden gefallen sich in den Videositzungen nicht und kommen deshalb zu mir.»
Operationen lassen sich besser verstecken
Nussberger, der 28 Jahre in diesem Metier absolviert hat, berichtet von einer aktuell extrem hohen Nachfrage in der Deutschschweiz: «Schönheitseingriffe boomen dieses Jahr! Wir durften zwar sechs Wochen lang nicht operieren, doch diese Einbusse habe ich in meiner Praxis längstens aufgeholt.»
Lippenfiller, Faceliftings und Nasenoperationen sind in den letzten Monaten der Renner. Auch plastische Chirurgen aus den USA, Japan und Australien berichteten gegenüber der BBC von einer selten dagewesenen Nachfrage. Nussbergers Erklärung: «Dank Homeoffice und Maske lässt sich die Heilung vor den Arbeitskollegen besser verstecken. Ausserdem können es sich viele jetzt eher leisten, etwas machen zu lassen, weil sie nicht in die Ferien gereist sind.» Dass der Schönheitstourismus ins Ausland wegfällt, dürfte Schweizer Beauty-Kliniken ebenfalls in die Hände spielen.
Wie verändert sich unser Gewicht?
Die Pandemie könnte Spuren hinterlassen – nicht nur bei denen, die sich unters Messer wagen. International sind Wissenschaftler besorgt, dass wir durch Lockdowns, Quarantäne und Homeoffice dick werden könnten. Denn Bewegung ist wichtig – nicht nur zwischen Sofa und Kühlschrank.
Experten hierzulande sehen das differenzierter. Barbara Richli (55), Vizepräsidentin des Schweizerischen Verbands der Ernährungsberater, rechnet damit, dass einige an Gewicht zulegen, andere abgeben, «etwa weil sie nun am Familientisch und nicht im (Fast-Food-)Restaurant essen».
Laut Philippe Luchsinger (62), Präsident des Schweizer Hausarztverbandes, bewegen sich nicht alle zwingend weniger als vor der Pandemie: «Manche haben wegen des wegfallenden Arbeitswegs oder der Kurzarbeit mehr Freizeit und nutzen diese für sportliche Aktivitäten.» Doch ob wir nun ein Kilo mehr oder weniger auf den Rippen haben – die heiss geliebte Corona-Jogginghose passt so oder so.