Russische Journalistin Ekaterina Glikman (42) in der Schweiz
Das andere Gesicht Russlands

Die «Nowaja Gaseta», die wichtigste unabhängige Zeitung Russlands, stellte diese Woche den Betrieb ein. Ekaterina Glikman (42) ist für sie als Korrespondentin von der Schweiz aus tätig. Sie gibt Einblick in ein anderes Russland. Ein leidendes – aber auch widerständiges.
Publiziert: 02.04.2022 um 15:12 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2022 um 15:28 Uhr
«Sechs meiner Kollegen wurden ermordet»
4:11
Russische Journalistin:«Sechs meiner Kollegen wurden ermordet»
Rebecca Wyss

Plötzlich entleert sich eine feiste Wolke über dem Zürcher Bürkliplatz. Die kleine Protest-Gruppe lässt sich nicht beirren. Steht kurz unter das Dach des grossen Pavillons, postiert sich dann gleich wieder mit ihren «STOP THE WAR»-Schildern am Strassenrand. In Sichtweite der Karawane von SUVs, die an diesem Feierabend vorbeizieht. Mitten unter ihnen: Ekaterina Glikman (42), mit einer weiss-blau-weissen Fahne um den Hals gebunden – das Symbol von Russlands aktueller Antikriegsbewegung. Sie sagt: «Viele in Russland denken wie ich, können aber nicht an einer Demo teilnehmen, ohne eingesperrt zu werden.»

Ekaterina Glikman an der Demo auf dem Bürkliplatz in Zürich.
Foto: Siggi Bucher

Putin hat das Image der Russen verdorben. Kaltblütige Kriegstreiber, gierige Oligarchen, glühende Putin-Verehrer, ein Volk von Gleichgültigen – all das ist derzeit in den Köpfen vieler Europäer festgetackert. Doch das Bild ist unvollständig, hängt schief. Die Journalistin Ekaterina Glikman zeigt: Es gibt noch ein anderes Russland. Ein widerständiges, und auch: ein leidendes.

Die Moskauerin lebt in der Schweiz. Sie zog vor gut zwei Jahren wegen ihres Schweizer Ehemanns nach Schaffhausen. Seit 20 Jahren schreibt sie für die «Nowaja Gaseta», mittlerweile als Korrespondentin. Als solche spürt sie Putins Repressionen: Diese Woche gab ihr Chef Dmitri Muratow (60) bekannt, dass die Zeitung ihre Arbeit niederlegt. Das wichtigste unabhängige Medium innerhalb Russlands. Das letzte seiner Art. Nachdem bereits der legendäre Radiosender Echo Moskwy oder der Fernsehsender Doschd mundtot gemacht wurden und ihre Journalisten ins Exil geflüchtet sind. Russland versinkt nun im Propaganda-Sumpf. In der Dunkelheit.

«Wir sind nicht tot»

Der Entscheid fiel der Redaktion schwer, sagt Glikman. Er fiel, nachdem die russische Medienaufsicht die «Nowaja Gaseta» zwei Mal gerügt hatte – wegen Verstosses gegen die jüngsten Putin-Zensurgesetze. Diese verbieten den Medien etwa, Begriffe wie «Krieg» oder «Invasion» zu benutzen oder frei über das russische Militär und sein Treiben zu berichten. Für viele Russen ist der Stopp ein Schock. Etliche Schreiben erreichten die Redaktion in den letzten Tagen. Der Ton: verzweifelt. Davon berichtet Glikman, und beschwichtigt: «Wir sind nicht tot. Wir machen nur Pause. Putin und seine Leute werden diesen Krieg nicht überleben, wir schon.»

Als Beweis holt sie ihr Handy hervor, mit einem Foto von der Redaktionssitzung vom Morgen. Ein Raum vollgepackt mit Menschen, lächelnd, schweigend, manche mit müden Augen, aber alle mit der gleichen trotzigen Haltung: Wir sind noch da. Glikman sagt: «Sie sind nicht geflohen. Ich bin stolz auf sie.»

Die Redaktion der «Nowaja Gaseta» mit dem Chefredaktor Dmitri Muratow (ganz rechts, stehend). Glikman ist per Zoom zugeschaltet (links im Bild).
Foto: zVg

Für viele Russen war die «Nowaja Gaseta» die letzte Hoffnung. 29 Jahre lang berichteten die Reporter über Kriege wie diejenigen in Tschetschenien, über Gefangene, Gefolterte und Getötete, gaben Opfern des Putin-Regimes eine Stimme. Deshalb erhielt der Chefredaktor Dmitri Muratow im Dezember den Friedensnobelpreis. Und so verfährt die Redaktion auch in diesen Kriegszeiten – oder verfuhr.

Glikmans letzte Story ging Mitte März online. Sie berichtete in mehreren Artikeln über die Menschen im Donbass, in der Ostukraine, über die Flut von Männern, jung und alt, die gegen die ukrainische Armee in den Krieg ziehen mussten – ohne Ausbildung, ohne Munition, ohne Essen. Prorussische Separatisten zwangen sie dazu – «Banditen», sagt Glikman. Der letzte Artikel klickte gut, über 1,3 Millionen Mal. «Wir erreichen mittlerweile auch Russen, die nicht zu unserer Leserschaft gehören.» Viele hätten Angst, dass ihre Söhne dereinst auch eingezogen würden.

Diese Angst ist symptomatisch für das russische Volk. Kurz nach der Invasion und Putins Drohung mit Nuklearwaffen nahm Dmitri Muratow ein Video auf, appellierte darin an seine Landsleute: «Nur eine Antikriegsbewegung in Russland kann das Leben auf dieser Erde retten.» Nur die Russen selbst können ihren Tyrannen stoppen. Doch sie tun es nicht. Warum stehen sie nicht zusammen – und auf?

Ekaterina Glikman sagt: «Meine Nation ist gebrochen und krank. Du kannst dir nicht helfen, wenn du gebrochen und krank bist.» Jahrzehnte voller Propaganda habe sie vergiftet, verblendet. Und die, die sich wehren, bezahlen mit dem Leben dafür. Glikman verlor bei der «Nowaja Gaseta» sechs Arbeitskollegen, ermordet. Der Mord an Anna Politkowskaja in den Nullerjahren ging um die Welt.

Das Trauma des russischen Volkes

Hinzu kommt, sagt sie: «Das grosse Trauma.» Nie seien in Russland die Toten korrekt gezählt worden, Menschenleben zählten nichts – weder zu Stalins Zeiten noch heute. Sie sagt: «Die russische Geschichte ist eine Abfolge von Selbstgenoziden. Doch das wurde nie aufgearbeitet.» Diese Erfahrung sei von Generation zu Generation weitergegeben worden. Mit ihr die Angst. Und ein Ohnmachtsgefühl.

In der Schweiz kann die Journalistin demonstrieren, ohne festgenommen zu werden – anders in ihrem Heimatland.
Foto: Siggi Bucher

Dagegen schreibt sie an. Trotzdem trägt auch sie das in sich. Manchmal überkomme sie an den jetzigen Kundgebungen ein seltsames Gefühl, sie frage sich: Darf ich hier in der Schweiz wirklich ein Protestschild in den Händen halten? In Russland ist das strengstens verboten.

Wie kann das Volk gesunden? Ekaterina Glikman sagt: «Durch Reue.» Das Land und seine Menschen müssten sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, mit den Toten, mit der eigenen Schuld. Und dann um Vergebung bitten. Bei den eigenen Leuten, und den Ukrainern. «Nur durch Reue können wir als Nation wiedergeboren werden.»

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