Familie Käser aus Lotzwil BE empfängt Irina (24) und Larissa (59)
Drei Nationen, eine Familie
Eine Russin, zwei Ukrainerinnen und ein Berner sitzen an einem Tisch. Sagt die Russin: «Es war sofort klar, dass die beiden zu uns kommen können – wir haben Platz und wollen helfen.» Zusammen mit ihrem Mann Martin (59) und zwei ihrer Kinder wohnt Jelena Käser (42) in Lotzwil BE. In der Not funktioniert hier, was weltweit auseinanderbricht: die Verbundenheit ukrainischer und russischer Bevölkerung.
Jelena hat zum Mittagessen Teigwaren gekocht, Larissa (59) eine ukrainische Suppe, ihre Tochter Irina (24) Pilz-Piroggen. Die drei Frauen sind miteinander verwandt: Larissa ist die Cousine von Jelenas Mutter. Bis vor elf Jahren lebte Jelena im russischen Tscheljabinsk, bis vor zwei Wochen wohnten Larissa und Irina in Kiew. Heute schlafen die drei Frauen unter dem gleichen Dach im Berner 2600-Seelen-Dorf.
Wenn Martin Käser den Leuten erzähle, dass zwei Ukrainerinnen bei ihnen wohnen, höre er oft: «Aber deine Frau ist doch Russin?» Das sei für ihn absurd. «Wir haben viele russische Freunde – und sie alle haben ukrainische Verwandte oder Bekannte.» Für Larissa und Irina hat Martin sein Büro geräumt und zwei Betten hineingestellt. Nur ein paar Kleider und ihre Hündin Lissa konnten die beiden Ukrainerinnen mitnehmen. Ihren Ehemann musste Larissa zurücklassen.
Die Familie Käser steht mittendrin: zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Anfeindung und Solidarität. Ihr elfjähriger Sohn sei in der Schule in Lotzwil gefragt worden, ob er für oder gegen Putin sei, und höre Sachen wie: «Russland ist scheisse.» Gleichzeitig hätten zahlreiche andere Eltern die Familie Käser um Tipps gebeten, weil sie ebenfalls ukrainische Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Weil Jelena russisch und deutsch spricht, hilft sie den beiden Ukrainerinnen bei der Organisation von Tierarztbesuchen, bei Dokumenten und Vorstellungsgesprächen. Ihr Leben lang hatte Jelena russisches Staatsfernsehen geschaut. Seit Larissa und Irina bei den Käsers wohnen, läuft der Sender in ihrem Haushalt fast gar nicht mehr.
Im Berner Haushalt sprechen die drei nicht über die Politik, wegen der es allen schlechter geht. Die Frauen teilen ihren Alltag, tauschen Rezepte aus, putzen gemeinsam die Fenster, unternehmen Ausflüge, um sich abzulenken. «Welche Nationalität wir haben, sollte keine Rolle spielen», sagt Jelena. Larissa und Irina sind trotz allem froh, in der Schweiz zu sein: «Es ist wunderschön hier, und wir freuen uns über das Wiedersehen – auch wenn wir uns dafür andere Umstände gewünscht hätten.»
Zürcher Tierheim nimmt Oleksandra Erastovas (33) Katze Paris als Feriengast auf
Nicht ohne das Büsi
Sie hat zuerst einen Platz für ihre Katze Paris gesucht: Als Oleksandra Erastova (33) am Abend des 1. März vor dem Tierheim des Zürcher Tierschutzes steht, ist zunächst nicht klar, was mit dem Büsi geschehen soll. «Da bin ich in Tränen ausgebrochen, ich hatte zwei Tage kaum geschlafen, und ich wusste, dass wir mit der Katze nicht ins Asylzentrum können», sagt Erastova.
Die Ukrainerin flieht einen Tag nach Kriegsausbruch über die Grenze nach Polen, mit im Kleinwagen sitzen ihre 62-jährige Mutter Maryna, ihre Katze und Kunst, Erastova ist Illustratorin und Malerin. Ihre Flucht hatte sie seit Dezember vorbereitet: «Ich habe die internationalen Nachrichten genau verfolgt. Ich wollte den Krieg nicht erleben und sehen müssen, wie mein Zuhause zerstört wird, Familie und Freunde sterben.» Bereits zwei Wochen vor Kriegsbeginn fuhr sie an die ukrainische Grenze, die verstörte Katze wollte zwei Tage nichts mehr essen, dann habe sie sich an die Reise gewöhnt. «Ich hätte mein Büsi niemals zurückgelassen», so die Künstlerin.
Der Geschäftsführer vom Zürcher Tierheim Rommy Los (54) erinnert sich gut an ihre Ankunft: «Als ich das vollgestopfte kleine Auto gesehen habe, die Mutter in Tränen und die kleine miauende Katze, da wurde mir klar, dass der Krieg nicht nur im Fernseher stattfindet, sondern bei uns angekommen ist.»
Katze Paris wurde unbürokratisch und kostenlos als Feriengast im Tierheim aufgenommen. Sie war der Auslöser, umgehend mit anderen Heimen 100 Pflegeplätze für Hunde und Katzen von Flüchtlingen zu schaffen – in Koordination mit den Asylzentren. Paris ist inzwischen gut in ihrem grosszügigen Gehege angekommen – und auch die Erastovas fühlen sich in der Schweiz willkommen. «Die Menschen sind wahnsinnig freundlich, hilfsbereit, und ich fühle mich hier sicher», so Erastova.
Dieses Wochenende zieht sie mit ihrer Katze bei ihrer neuen Gastfamilie ein. Sie hofft, dass sie bald als Künstlerin arbeiten kann. Etwa fünfzig ihrer Werke hat die junge Frau im Auto mitgenommen, weitere stecken noch in der Ukraine fest. An eine Rückkehr denkt sie vorläufig nicht – zu gross ist die Angst.
Die Russin Anna Leykum (43) aus Bern quartiert Ulijana (42) und ihre Grossfamilie ein
Zehn Kinder, eine Familie
Die erste Nacht verbrachte die zwölfköpfige Familie im Haus von Anna Leykum (43) und deren Nachbarn: «Wir haben gemeinsam irgendwie Platz geschaffen, aber auf Dauer wäre es schlicht zu eng bei uns.» Anna stammt ursprünglich aus Russland und lebt seit 20 Jahren in Bern, zuvor auch in der Ukraine. Für sie war klar, dass sie ihre Freundin mitsamt Grossfamilie so gut wie möglich bei ihrer Ankunft in der Schweiz unterstützen wird.
Seit 2014 die Probleme mit Russland begonnen haben, pendeln Ulijana (42) und ihr Mann Artem (41) zwischen der Ukraine und der Türkei: «Das Leben mit so viel Kindern ist dort einfacher, allerdings haben wir nur ein Touristenvisum. Zurück in die Ukraine können wir nicht», sagt Ulijana, die unter dem Künstlernamen Mirta Groffmann als Malerin das Geld für die Familie verdient, ihr Mann ist Fotograf.
Das Paar hat zehn Kinder im Alter von 5 bis 19 Jahren, vier eigene, sechs sind adoptiert. So viele waren eigentlich nicht geplant, aber alle Kinder stammen aus sehr schwierigen Verhältnissen. Die jüngsten drei kamen alle zusammen, ihre Eltern waren schwere Alkoholiker: «Der älteste Junge Daniel musste als Sechsjähriger auf seine kleinen Geschwister aufpassen. Wir wollten sie nicht voneinander trennen», sagt Ulijana. Sie hofft, dass sie in der Schweiz als Künstlerin Fuss fassen kann, ihre Berner Freundin Anna Leykum mit grosser Unterstützung von Freunden ist bereits dabei, ein Atelier, Farben und bald eine Vernissage zu organisieren.
Derzeit lebt der Vater mit den Kindern im Asylzentrum in Wankdorf, sie hoffen auf eine Unterkunft in Bern, wo sie alle zusammen sein können.
Familie Fenk aus Riehen BS lebt mit Antonina (42) und Maxim (4)
Kommunikation übers Kochen
Rösti? Das gibt es auch in der Ukraine: Die geraffelten Kartoffeln heissen dort Gogal, erzählt Antonina (42). Mittags kocht meist sie, mit ihrem Sohn Maxim (4) ist sie seit zwei Wochen in Riehen BS zu Gast. «Es fühlt sich an wie eine Wohngemeinschaft, wir unterstützen uns gegenseitig», sagt Jessica Fenk (42).
Die Bilder aus den Nachrichten von Frauen und Kindern auf der Flucht gingen der alleinerziehenden Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Sie hat einen sechsjährigen Sohn und eine zwölfjährige Tochter: «Wir haben darüber diskutiert und beschlossen, Flüchtlinge aufzunehmen.» In der 4,5-Zimmer-Wohnung sei genug Platz, im einen Kinderzimmer steht neu ein Kajütenbett mit Plüschtieren für den kleinen Maxim.
Er ist der Grund, warum Antonina geflohen ist: «Ich wollte nicht, dass mein Sohn dieses Kriegstrauma erleben muss.» Sie stammt aus dem Westen der Ukraine, mehrmals am Tag dröhnen die Sirenen, und man müsse sich im Keller verstecken. Auch Antonina ist über den Verein Terranea via Ungarn nach Basel gekommen, sie hält über eine Chatgruppe Kontakt mit ihren Mitreisenden. Gastgeberin Fenk hat ein WiFi im Schlafzimmer eingerichtet, damit sie ungestört mit ihrer Familie in der Ukraine reden kann.
Nachrichten am TV schauen sich die beiden Frauen bewusst nicht an, Antonina informiert sich lieber über Zeitungsartikel. Die Verständigung zwischen den beiden ist nicht ganz einfach: «Es geht auch mit Händen und Füssen», sagt Jessica und lacht. Ab nächster Woche bringt sie Antonina ins Kirchgemeindehaus, dort werden Deutschkurse für Flüchtlinge angeboten. Maxim besucht neu eine Sprachförderungs-Spielgruppe. «Er möchte gerne mit den anderen Kindern reden, aber noch fehlen ihm die Worte», sagt seine Mutter.
Im August käme Maxim in den Kindergarten. Antonina hofft, dass sie bis dann wieder zurück in ihrer Heimat bei der Familie ist.
Familie Musfeld aus Reinach BL öffnet ihr Haus für Valeriia (36), Diana (23) und Anastasia (15 Monate)
Früher Flüchtling, heute Gastgeberin
Sie war selber ein Flüchtling. Als kleines Kind ist Sandra Musfeld (37) mit ihrer Familie aus Ex-Jugoslawien in die Schweiz gekommen: «Zuerst hiess es, dass wir in den Ferien bei unserer Tante sind, aber wir sind nie zurückgekehrt.» Ihre kroatischen Eltern hätten es damals schwer gehabt, sie durften nicht arbeiten, die fünfköpfige Familie lebte in einer 3-Zimmer-Wohnung. Sandra: «Ich finde es richtig, wie unkompliziert die Ukrainer aufgenommen werden, das sollte man mit allen Flüchtlingen so machen.»
Heute lebt Sandra mit ihrem Mann Jan Musfeld (39) und drei Kindern (4, 6, 8) in einem grossen Haus im Grünen mit Pool: «Wir haben viel Platz, uns geht es gut, davon möchte ich etwas weitergeben.» Zufällig stiess sie auf Terranea. Der Verein hat seit Kriegsbeginn 300 Flüchtlinge in die Schweiz gebracht und unbürokratisch direkt an Private vermittelt: Der erste Car ist am 9. März in Basel angekommen, darin waren auch Valeriia (36), ihre Cousine Diana (23) mit Tochter Anastasia (15 Monate). Beide sind Lehrerinnen und haben dank ihrer Gastgeberin in Reinach BL nicht nur ein sicheres Daheim gefunden, sie unterrichten in der Gemeinde bereits Kinder aus der Ukraine. «Die Arbeit tut gut, das lenkt auch von den Gedanken an daheim ab», sagt Valeriia. Eltern und Grosseltern sind in der Heimat geblieben, eine Reise sei für sie nicht möglich, Valeriia: «Meine 80-jährige Grossmutter muss beim Bombenalarm die Nacht in Kiew im U-Bahnschacht verbringen.»
Valeriia kann sich vorstellen, länger in der Schweiz zu bleiben. Diana vermisst ihren Mann, sie möchte, so bald es geht, wieder zu ihm: «Zum Glück ist unsere Tochter noch zu klein, um zu begreifen, was vor sich geht.» Im Haus der Familie Musfeld fühlen sich die Frauen sicher. «Wir sind enorm dankbar. Sandra umsorgt uns wie eine Mutter, sie denkt einfach an alles.»
Unterstützt werden sowohl Flüchtlinge wie auch Gastfamilien von einem Netzwerk aus Freiwilligen. Sandra: «Es gibt verschiedene Gruppenchats, da sind Ärzte und Anwälte dabei, die mit Rat und Tat zur Seite stehen.» Die Gastgeberin rechnet damit, dass die beiden Frauen mindestens sechs Monate bleiben. Wer seine Ruhe will, zieht sich in sein Zimmer zurück. Meist sitze man abends aber noch zusammen, statt fernzusehen, unterhalte man sich, denn Kroatisch und Ukrainisch sind ähnlich. Darum gebe es kaum Sprachbarrieren.