Auf dem Stockjigletscher bei Zermatt VS ist vor ein paar Tagen ein menschliches Skelett gefunden worden. Werden als Folge des Klimawandels künftig öfter menschliche Überreste in den Bergen auftauchen?
Stephan Bolliger, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, sagt auf Anfrage von Blick: «Bisher werden bei uns am Institut höchst selten Gletscherleichen untersucht.» Trotzdem: Es sei davon auszugehen, dass aufgrund des Rückgangs der Gletscher vermehrt Leichen oder Leichenteile aufgefunden werden könnten.
Fokus auf Todesart
Bei der Untersuchung von Gletscherleichen werden die Todesursache, die Identität und die Todeszeit ermittelt. Ein besonderer Fokus werde laut Bolliger auch auf die Todesart gelegt. Unter welchen Umständen kam ein Mensch zu Tode? War die Ursache ein Unfall oder Fremdeinwirkung? Denn: «Nicht jeder Mensch, der im Gebirge zu Tode kam, wurde Opfer eines Unfalls», sagt Bolliger. Das belege etwa der Fall der wohl berühmtesten Gletscherleiche der Welt, Ötzi. Dieser sei nämlich von einem Pfeil tödlich verwundet worden.
Gletscherleichen werden grundsätzlich wie andere Leichen untersucht. «Im Idealfall wird eine äussere Besichtigung der Leiche an der Fundstelle vorgenommen, eine sogenannte Legalinspektion. Dann gibt es eine gründliche äussere Besichtigung im Institut und schliesslich eine rechtsmedizinische Obduktion», erklärt der Experte.
Aber: Bei Gletscherleichen stellen sich laut Bolliger zusätzliche Schwierigkeiten bei der Untersuchung. «Oft ist es aus geografischen Gründen nicht möglich, dass Rechtsmediziner die Legalinspektion vor Ort durchführen können.» In den meisten Fällen würden diese Leichen nämlich von Gebirgsspezialisten geborgen und entweder mit Helikoptern oder Schlitten abtransportiert werden.
Kleidung oder Gegenstände liefern Hinweise
«Derartige Leichen oder Leichenteile sind meist durchgefroren und oft auch von Eis ummantelt. Bis sie dann so weit aufgetaut sind, dass weitere Untersuchungen durchgeführt werden können, kann es mehrere Tage dauern.» Am Institut für Rechtsmedizin an der Uni Zürich werden alle Verstorbenen aber einer Ganzkörper-Computertomografie (CT) unterzogen. «Diese liefert uns dann bereits etliche Erkenntnisse zu allfälligen Verletzungen, krankhaften Veränderungen oder aber auch Identifikationsmerkmale», sagt Bolliger.
Trotzdem stellen die Identifikation und die Todeszeitschätzung bei Gletscherleichen besondere Herausforderungen dar. Bolliger: «Bei Gletscherleichen ist der natürliche Zerfallsprozess aufgrund der Kälte unterbrochen, sodass diese Leichen Jahrzehnte bis Jahrhunderte oder mehr unverändert im Eis verbleiben können. Somit ist eine Schätzung der Todeszeit rein aufgrund der Erscheinungen an der Leiche kaum möglich.»
Hier können laut Bolliger etwa die Art der getragenen Kleidung oder in den Kleidern aufgefundene Gegenstände wie Quittungen, Fahrscheine, oder Hartgeld die Todeszeit eingrenzen. Diese Dinge böten allenfalls Aufschluss über den Ursprungsort oder Reiseetappen einer toten Person und könnten helfen, Vermisstmeldungen einzugrenzen.
Leiche aus den 1970er-Jahren
Bloss: Nicht immer gibt es eine solche. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum Beispiel, weil laut Bolliger nicht bei allen Vermisstmeldungen DNA-Probenmaterial vorliege – obwohl heutzutage bei allen Vermisstmeldungen solches sichergestellt werde. Die Eidgenössische DNA-Datenbank etwa besteht erst seit dem Jahr 2000.
Die älteste Gletscherleiche, die Bolliger untersuchen durfte, war ein junger Mann aus Mittelengland. Er verstarb Anfang der 1970er-Jahre auf einem Gletscher und wurde in einem sehr heissen Sommer aufgefunden. «Unsere Untersuchungen ergaben, dass der Mann allein im Gebirge unterwegs war und sich, mutmasslich durch einen Fehltritt, einen Sprunggelenksbruch zuzog und sich aufgrund dessen nicht mehr fortbewegen konnte», erzählt der Experte.
Damals, vor dem Zeitalter von Mobiltelefonen, sei es dem Mann unmöglich gewesen, Hilfe zu holen, sodass er schliesslich im Gebirge, mutmasslich durch Unterkühlung, verstarb. «Dieser sehr tragische Fall bleibt mir auch viele Jahre nach der Untersuchung noch sehr lebhaft in Erinnerung.»