Präsident des Anne Frank Fonds
«Verschwörungstheorien bleiben lange haften»

Die Stiftung kritisiert die Forscher-Gruppe, die erklärt, sie hätten Verräter von Anne Frank gefunden. Der Anne Frank Fonds ist über die Untersuchung enttäuscht, sagt deren Präsident John D. Goldsmith im Interview.
Publiziert: 23.01.2022 um 10:46 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2022 um 11:40 Uhr
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John Goldsmith, Präsident des Anne Frank Fonds: «Wir hatten früh den Verdacht, dass hier aus kommerziellen Gründen wohl eine seriöse ergebnissoffene Aufarbeitung wohl nicht möglich sein würde.»
Foto: picture alliance/dpa
Simon Marti

Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten versteckte sich die Familie von Anne Frank ab Sommer 1942 in einem Amsterdamer Hinterhaus. Die 13-Jährige führte ein Tagebuch, dem sie in der Folge ihre Gedanken und Beobachtungen anvertraute.

Im August 1944 wurde die Familie verraten, verhaftet und deportiert. Anne Frank kam Anfang 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben.

Ihr Vater Otto Frank überlebte den Holocaust als Einziger der Familie. Nach Kriegsende zog er nach Basel und gründete dort den Anne Frank Fonds. Dieser verwaltet die Rechte des 1947 erstmals publizierten Tagebuchs der Anne Frank. Heute präsidiert John D. Goldsmith die Stiftung. Im SonntagsBlick nimmt er erstmals Stellung zur neusten Untersuchung, die den Verräter der Familie Frank identifiziert haben will.

Neue Methoden, heftige Kritik

Vor sechs Jahren stellte der Holländer Pieter van Twisk ein Team zusammen, um zu klären, wer Anne Frank und ihre Familie verraten hatte. Aufgezogen wurde die Untersuchung als «Cold Case», wie ungelöste Kriminalfälle im Polizeijargon genannt werden. Dementsprechend zog van Twisk einen ehe­maligen ­FBI-Agenten heran. Anfang Woche präsentierte das Team das Ergebnis seiner Recherchen – und ­einen Schuldigen: Arnold van den Bergh, ein jüdischer Notar aus Amsterdam, habe die Franks den Nazis ausgeliefert. Van den Bergh, 1950 verstorben, gehörte dem «Judenrat» von Amsterdam an, eine vom NS-Regime geschaffene Zwangskörperschaft, die den Besatzern als Ansprechpartner zu dienen hatte. Spezialisierte Historiker aber ­kritisieren die Methoden und die Beschuldigung van den Berghs scharf.

Vor sechs Jahren stellte der Holländer Pieter van Twisk ein Team zusammen, um zu klären, wer Anne Frank und ihre Familie verraten hatte. Aufgezogen wurde die Untersuchung als «Cold Case», wie ungelöste Kriminalfälle im Polizeijargon genannt werden. Dementsprechend zog van Twisk einen ehe­maligen ­FBI-Agenten heran. Anfang Woche präsentierte das Team das Ergebnis seiner Recherchen – und ­einen Schuldigen: Arnold van den Bergh, ein jüdischer Notar aus Amsterdam, habe die Franks den Nazis ausgeliefert. Van den Bergh, 1950 verstorben, gehörte dem «Judenrat» von Amsterdam an, eine vom NS-Regime geschaffene Zwangskörperschaft, die den Besatzern als Ansprechpartner zu dienen hatte. Spezialisierte Historiker aber ­kritisieren die Methoden und die Beschuldigung van den Berghs scharf.

Anfang Woche erklärte eine Gruppe von Forschern, sie habe den Mann identifiziert, der Anne Frank und ihre Familie verraten hatte. Wie haben Sie darauf reagiert?
John D. Goldsmith: Wir wussten vom Projekt. Wir hofften auf eine seriöse und faktenbasierte Recherche. Doch die Art und Weise, wie da «geforscht» worden war, hat uns enttäuscht.

Warum sind Sie enttäuscht?
Es gibt eine Reihe von Punkten. Der Anne Frank Fonds in Basel hat ein grundlegendes Credo: Auf dem Rücken von Holocaust-Opfern wird kein Geld verdient. Das besagte Unterfangen war stets kommerziell angelegt. Das beunruhigte uns von Anfang an. Seit dem Erscheinen wird das Tagebuch der Anne Frank von Holocaust-Leugner als Fälschung bezeichnet. Derzeit wird sie als Identifikationsfigur für Impfgegner missbraucht. In einer solchen Zeit frage ich mich: Ist ein solches Projekt nicht ein Symptom für ein weitverbreitetes Problem im Umgang mit Geschichte?

War das der Grund, warum der Anne Frank Fonds schon vor Jahren auf Distanz zu den Forschern ging?
Wir distanzierten uns nicht öffentlich. Mit dem Begriff Forscher wäre ich allerdings vorsichtig. Hinter dem «Cold Case Anne Frank» steht eine Firma, keine Universität. Als diese Firma vor einigen Jahren bei uns vorstellig wurde, entschieden wir uns gegen eine Kooperation, wir stellten unsere Archive nicht zur Verfügung. Wir hatten früh den Verdacht, dass hier aus kommerziellen Gründen eine seriöse, ergebnisoffene Aufarbeitung wohl nicht möglich sein würde. Selbstverständlich luden wir das Team ein, Fragen zu Dokumenten einzubringen. Solche kamen nie.

Schliessen sich Forschung und Wirtschaftlichkeit denn aus?
Qualität und Kommerz müssen sich nicht ausschliessen, wie wir immer wieder sehen. Doch in diesem Falle wird unter Leitung eines ehemaligen FBI-Agenten eine Untersuchung abgeliefert, mit der er bei seinem ehemaligen Arbeitgeber nicht durchgekommen wäre.

Es waren durchaus Historiker beteiligt.
Sicher. Bloss keine Spezialisten für den Zweiten Weltkrieg, keine Spezialisten für das Thema Verrat der Jüdinnen und Juden in Holland. Das Fehlen dieser Expertise wurde uns rasch bewusst und zeigt sich ja jetzt. Seit Montag zerreissen Experten das Buch, es finden sich fast auf jeder Seite sachliche Fehler.

Welche Perspektive fehlt aus Ihrer Sicht?
Zuerst fehlen uns schlicht die Belege für die Thesen. Sehen Sie, allein in Holland versteckten sich während des Krieges etwa 20 000 Juden. Davon wurden rund 8000 verraten. Wenn man sich mit dieser Thematik des Verrats befasst, dann wünsche ich mir, dass man sich nicht allein auf Anne Frank konzentriert. Aber ohne ihren Namen würde das Buch wohl kaum Beachtung ausserhalb Hollands finden.

Wie Sie sagen, reagierte die Fachwelt schnell: Niederländische Historiker kritisieren das Buch und die ganze Untersuchung scharf. Ist die Diskussion damit nicht erledigt?
Rasch erfolgte die vernichtende Reaktion primär in Holland. International war dann aber die ursprüngliche Schlagzeile unwidersprochen da. Der Leser in Minnesota oder die Leserin in Chile oder sonst wo hat nun im Kopf: Anne Frank wurde von einem Juden verraten. Punkt. Der Kollateralschaden für die jüdische Gemeinschaft ist gross, und es wird Jahre an Aufklärungsarbeit brauchen, um die Auswirkungen aufzufangen.

Welche Auswirkungen beobachten Sie derzeit?
Die Antisemiten freuen sich. In den sozialen Medien wird die jüdische Gemeinde, gerade in den Niederlanden, stark angefeindet. Wenn die Geschichte dieses Verrats stimmen würde, wäre es ja völlig in Ordnung, darüber zu berichten und die Belege dafür einzuordnen. Dieser Beweis wird aber schlicht nicht erbracht. Einfach eine Behauptung zu verbreiten, die dann in der öffentlichen Dynamik zu einer Art Faktum wird, grenzt an eine Verschwörungstheorie. Und Verschwörungstheorien bleiben lange haften, das wissen wir.

Arnold van den Bergh, ein Amsterdamer Notar und Mitglied des Judenrats, sei mit einer Wahrscheinlichkeit von 85Prozent der Mann, der die Familie Frank verraten habe, argumentiert das Team. Was halten Sie von diesem Urteil?
Vor Gericht gilt jemand als schuldig oder unschuldig, ohne zwingenden Beweis gibt es keinen Schuldspruch. Van den Bergh kann sich heute nicht mehr verteidigen. Überall in Europa gab es Judenräte, so wie es überall in Europa Kollaborateure gab. Das ist der historische Hintergrund. Van den Bergh und viele andere befanden sich in einer unmöglichen Situation.

Darüber kann doch diskutiert werden.
Über die Rolle der Judenräte soll diskutiert werden, unbedingt, aber nicht so. Jetzt lautet die Kernaussage: Ein Jude verrät Juden. Das bleibt im Gedächtnis und das beunruhigt. Wahr ist: Holländer haben im Rahmen eines ausgeklügelten Verratssystems Juden verraten. Darüber gibt es ja zahlreiche Bücher und exzellente Forschungsarbeiten.

Ein Teil Ihrer Familie stammt aus den Niederlanden.
Mütterlicherseits, ja. Und es war alles darin vertreten: die Versteckten, die Verratenen, der Widerstand. Es sind diese Geschichten der einzelnen Familien, die die Aufarbeitung dieser Zeit bis heute so schmerzhaft machen.

Musste Ihrer Meinung nach am Ende einfach ein Schuldiger präsentiert werden?
Ja, genau darin liegt der Unterschied zur ergebnisoffenen Forschung. Das Projekt startete mit der Ankündigung, den Verrat zu lösen. Im vorliegenden Fall musste sich eine Investition auszahlen. Die Hauptthese ist ja auch nicht neu und wurde bereits 2003 von David Barnouw präsentiert.

Allerdings wurde bereits früher gegen van den Bergh ermittelt, Anne Franks Vater Otto Frank erhielt nach Kriegsende einen anonymen Hinweis, der auf ihn hindeutete.
Wir sind offen für gute Forschung und fördern diese seit Jahren mit grossen Beträgen. Wir sehen unsere Aufgabe aber eher in der Gegenwart. Es ist ja nicht so, dass Antisemitismus und Rechtsextremismus der Vergangenheit angehören. Otto Frank richtete seinen Blick in die Zukunft. Er hätte die Botschaft des Tagebuchs seiner Tochter kaum verbreiten und die Stiftung mit ihrem Namen kaum gründen können, wenn er nur zurückgeschaut hätte. Dass er in der Lage war, ein neues Leben zu gründen, finde ich bis heute bewundernswert.

Der gegenwärtigen Aufgabe steht die jüngste Untersuchung im Weg?
Sie trägt nicht zur Wahrheitsfindung, sondern zur Verwirrung bei und ist darüber hinaus voller Fehler. Wenn die Auseinandersetzung mit historischen Themen solch groteske und unsinnige Formen annimmt, haben wir ein Problem als Gesellschaft. Zwar gedenkt Europa am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus, aber was noch vor einigen Jahren als gesellschaftlicher Konsens etwa in Bezug auf den Holocaust galt, wird heute bestritten oder politisch instrumentalisiert. Die Leugnung oder Relativierung des Holocaust macht sich wieder breit in der Gesellschaft, die mit der Abwägung von Fakten und Verschwörungstheorien zusehends überfordert ist.

Und das 75 Jahre nach der erstmaligen Publikation des Tagebuchs von Anne Frank.
Das Tagebuch ist und bleibt eine Chance, um sich auf die Thematik und darüber hinaus einzulassen. Das hilft bei einem respektvollen Umgang mit vielen Themen, die unsere Gesellschaft bewegen.

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