«Erhebliches Gewaltpotenzial»
Schweizer «Reichsbürger» zermürben Thurgauer Behörden

Im Thurgau kämpfen die Behörden mit Personen, die den Staat nicht anerkennen. Diese stellen sich beim Bezahlen von Steuern quer oder nehmen Gerichtstermine nicht wahr. Im Mittelpunkt steht eine geheimnisvolle Organisation, die nach ihren eigenen Regeln spielt.
Publiziert: 23.02.2022 um 15:48 Uhr
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Im Kanton Thurgau haben es die Behörden vermehrt mit Personen zu tun, die den Staat nicht anerkennen.
Foto: imago images/Andreas Haas

Ende Januar 2022 kommt es in Münchwilen TG zu einem Gerichtsprozess. Ein Maskenverweigerer soll zwei Bussen bezahlen, eigentlich eine Kleinigkeit. Doch die Stimmung ist aufgeheizt, das Gerichtsgebäude muss von zahlreichen Polizisten gesichert werden. Der 43-jährige Beschuldigte stellt sich beim Prozess quer und beschimpft den Richter – schliesslich muss die Verhandlung abgebrochen werden. Vor dem Gerichtsgebäude wird der Beschuldigte von Gleichgesinnten bejubelt und als Held gefeiert. Im Kanton Thurgau kein Einzelfall: Immer häufiger haben es die Beamten mit Personen zu tun, die den Staat als Firma ansehen und bestreiten, dass die Behörden Befugnisse haben. Ein Staatsanwalt spricht von «einer Art Schweizer Reichsbürger».

Wie die «NZZ» berichtet, ist der Beschuldigte ein Anhänger des sogenannten «Global Court of the Common Law» (GCCL). Die Mitglieder der geheimnisvollen Organisation glauben an finstere Machenschaften und dass hinter der Pandemie eine grosse Verschwörung steckt. Sie erkennen die Justiz nicht an, sondern orientieren sich an einer Art Naturgesetz und berufen sich auf angeblich biblische Grundsätze. Mit Phantasieausweisen, sogenannten «Lebenderklärungen», wollen sie sich aus der Macht des Staates befreien.

«Erhebliches Gewaltpotenzial»

Immer wieder dokumentieren Mitglieder des GCCL ihre Aktionen in den sozialen Medien, wie die Zeitung weiter schreibt. So ist in einem Video ein Autofahrer zu sehen, der eine einfache Zollkontrolle komplett ausarten lässt. Aber auch anderswo widersetzten sich die GCCL-Mitglieder: Krankenversicherungen, Steuerbehörden, Gerichte oder die Erhebungsstelle für die SRG-Gebühr (Serafe) werden mit Schreiben und Strafanzeigen eingedeckt – sie stellen nicht selten den Anfang eines nervenaufreibenden Papierkriegs dar. Laut René Hunziker, Präsident des Bezirksgerichts von Frauenfeld, gibt es seit 2021 eine deutliche Zunahme von solchen Fällen.

Beispielsweise werde von den «Reichsbürgern» auch die Annahme von Briefen konsequent verweigert und Verhandlungstermine nicht wahrgenommen. Personen müssten dann mit polizeilichen Mitteln zu den Verhandlungen gebracht werden, teilweise sei sogar Polizeischutz nötig. Marcel Keller, Staatsanwalt in Frauenfeld, spricht dabei von einem «erheblichen Gewaltpotenzial».

Grösste Ballung im Thurgau

Wie viele Unterstützer der GCCL hat, ist unklar. Klar ist aber, dass die Gruppierung wächst. Im Telegram-Chat für die gesamte Schweiz sind fast 1500 Accounts registriert – 300 davon sollen alleine aus dem Kanton Thurgau kommen. Zum Vergleich: In der Zürcher Gruppe befinden sich rund 80 Personen. Der Anführer des GCCL, der Österreicher Carl-Peter H.*, sitzt derzeit im Gefängnis in Liechtenstein und soll an sein Heimatland ausgeliefert werden. Als mehrere Anhänger des GCCL vor einem Jahr verurteilt worden waren, weil sie Staatsanwälte, Richter und Politiker entführen wollten, tauchte H. unter.

Noch scheinen die Schweizer Behörden die Gruppierung nicht als gefährlich einzustufen. Die Thurgauer Polizei etwa berichtet, sie habe die «Reichsbürger» als organisierte Gruppe unter der Bezeichnung GCCL bisher noch gar nicht wahrgenommen. Und: Laut des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) fallen Personen, die sich radikalisieren, nur dann in sein Aufgabengebiet, wenn ein konkreter Gewaltbezug vorliege. Das sei bisher aber noch nicht der Fall gewesen. (bra)

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