Er war vor fünf Jahren angetreten, um die traditionsreichste Schweizer Zeitung wieder auf bürgerlichen Kurs zu bringen. Misst man Eric Gujer am Echo, das er auslöst, ist seine Mission erfolgreich. Die Leitartikel des NZZ-Chefredaktors sorgen bei der links-urbanen Elite regelmässig für erhöhten Blutdruck. Politisch missliebige Mitarbeiter sind längst abgesprungen. Und in Deutschland erschliesst das Blatt mit rechtem Kulturpessimismus neue Leserschichten.
Eric Gujer sitzt vor den Porträts der ehemaligen NZZ-Verwaltungsratspräsidenten Ulrich Bremi und Konrad Hummler (der eine verkörpert die goldenen Tage des Zürcher Freisinns, der andere das Ende des Schweizer Bankgeheimnisses). Zuerst entschuldigt sich Gujer für die Kälte. Die Heizung ist gerade ausgefallen.
Herr Gujer, wissen Sie, wer Tanja La Croix ist?
Eric Gujer: Nein.
Dianne Brill?
Nein.
Bligg vielleicht? Michael Steiner?
(Überlegt) Jetzt weiss ich, was Sie meinen.
Diese Personen – eine House-Produzentin, eine Society-Lady, ein Musiker und ein Filmemacher – zieren das Erdgeschoss Ihres Verlagsgebäudes, wo irgendwann die NZZ-Bar eröffnen soll. Wird man Sie dort mit Mitarbeitern beim Feierabenddrink antreffen?
Ob beim Feierabenddrink, weiss ich nicht. Aber ich werde sicher dorthin gehen, wie auch in die anderen Gastrobetriebe im Gebäude, die es bereits gibt.
Sie gelten, wenn man über Sie liest, als unnahbar, kühl. Als einsamer Kapitän.
Ein solches Bild zu zeichnen, ist sehr einfach. Wenn man für eine Redaktion mit 250 Leuten verantwortlich ist und auch noch der Geschäftsleitung der NZZ-Mediengruppe angehört, ist man nicht immer überall präsent. Ich will mich nicht selber bewerten, aber wenn ich bedenke, wie viele verschiedene Hüte ich aufhabe, glaube ich, dass ich durchaus nahbar bin.
Mit Sicherheit provozieren Sie. Während der ersten Corona-Welle bezeichneten Sie es als «Seuchen-Sozialismus», wenn Teile der Wirtschaft um Unterstützung werben. Dabei hat die NZZ selber Staatshilfe in Anspruch genommen. Ihnen wurde Heuchelei vorgeworfen.
Das Heuchelei-Argument verstehe ich nicht. Die NZZ hat etwas in Anspruch genommen, das der Gesetzgeber für genau solche Situationen vorsieht. Das Instrument der Kurzarbeitsentschädigung hat die NZZ immer befürwortet. Wogegen ich mich gewendet habe, ist, dass immer mehr Gruppen immer mehr Subventionen beanspruchen – über die Instrumente hinaus, die wir haben.
Da wittern Sie schon Sozialismus?
Wenn man alle im Frühjahr vorgebrachten Ideen für Staatshilfen addierte, dann konnte einem schwindlig werden. Dass schliesslich das Geld mit Augenmass verteilt wurde, liegt sicher auch an den Warnungen vor Übertreibung. Aber erlauben Sie mir noch eine grundsätzliche Bemerkung: Ein Journalismus, der nicht auch mal provoziert, der nur mit «einerseits und andererseits» und wohltemperiert daherkommt, hat seine Aufgabe verfehlt. Wir wollen einen Journalismus machen, der bewegt.
Durch Ihr Blatt zieht sich seit Ausbruch der Pandemie ein Lamento über staatliche Massnahmen. Da wird eifrig gegen die «durchpädagogisierte Politik», gegen den «Corona-Gehorsam» oder den «virologischen Imperativ» angeschrieben.
Ich finde interessant, dass Sie das Lamento nennen. Ich nenne das eine kritische Begleitung von politischen Entscheiden. Auch das ist eine Kernaufgabe der Medien in der Demokratie. Die NZZ hat zu denjenigen Medien gehört, die noch Widerwort und Kritik geübt haben. Das entspricht unserem freiheitlichen Menschenbild. Gerade in einer solchen Situation kann nicht alles staatlich verordnet sein.
Die Schweiz ist Corona-Hotspot mit einer hohen Sterblichkeit.
Umso mehr müssen die Massnahmen rational nachvollziehbar sein und der Lebensrealität entsprechen. Bei manchen Massnahmen war das nicht der Fall. Ich finde viel eher jene Medien begründungspflichtig, die sich in geistiger Habachtstellung vor den Bundesrat stellen.
Sie finden die Medien zu unkritisch?
Beim Service public finde ich das, ja.
Sie meinen die SRG.
Dort habe ich den Eindruck, dass man zu einer Art PR-Agentur des Bundesrats mutiert ist. Aber auch manche privaten Medien haben in der Corona-Krise ein bisschen ihre Wächterfunktion vergessen.
2017 flirteten Sie mit der «No Billag»-Initiative. Hand aufs Herz: Wie fänden Sie es, wenn die Öffentlich-Rechtlichen in diesem Jahr ohne Gebühren dastünden und die Branche damit noch mehr unter Druck käme?
Ich hatte die Initiative als zu radikal bezeichnet. Es braucht einen Service public. Der sollte aber nicht ins Gigantische wachsen und den Privaten die Luft zum Atmen nehmen.
Dann müssten Sie die Pläne im Parlament zur Förderung der privaten Medien begrüssen.
Von Subventionen abhängig sein, kann nicht unser Geschäftsmodell sein. Ich glaube auch nicht, dass die Leser das wollen. Journalisten sollten nicht die neuen Bauern werden.
Sie machen bei manchen Schweizer Mitbewerbern mangelnde Distanz aus. Wie sehen Sie das bei Ihren deutschen Konkurrenten?
Das ist nicht nur eine Medienfrage. Das hat mehr mit einem unterschiedlichen Staatsverständnis der beiden Länder zu tun. Die Deutschen sind sehr staatsfixiert, die Schweizer viel weniger. Schon das allein ergibt eine Differenz, weshalb wir dort «der andere Blick» sind. Wir haben als Schweizer ein etwas anarchistischeres Naturell.
Sie haben Ihre Berliner Präsenz ausgebaut. Fühlen Sie noch als Chefredaktor oder schon als Chefredakteur?
Ich bin natürlich Chefredaktor. Es wäre ja das Dümmste, wenn wir versuchen würden, ein deutsches Medium zu werden. Dann wären wir austauschbar. Unser Alleinstellungsmerkmal ist der Blick von aussen auf Deutschland.
Unter Ihnen floriert doch gerade die permanente innerdeutsche Nabelschau, diese typisch bundesrepublikanische Debattenkultur. Am Montag zum Beispiel wurde das «aktuelle Deutschlandgefühl» seziert. Etwas viel teutonische Schwere für eine Schweizer Zeitung.
Mit Deutschland hat das gar nichts zu tun. Als René Scheu Martin Meyer als Feuilletonchef ablöste, haben wir entschieden, das Debattenfeuilleton zu betonen. Heute sind wir diejenigen, die das pflegen, viel mehr als die deutschen Zeitungen. Denn das deutsche Meinungsklima ist sehr polarisiert. Von Debattenkultur ist dort im Moment nicht so viel zu spüren. Im Übrigen erkenne ich eher eine Schweizer Schwere. Wenn ich schaue, wer die leichte, verspielte Glosse pflegt, sind wir Schweizer die Schwereren und Ernsteren. Auf uns lastet das Gewicht der gesamten Alpen.
Ihre Amtszeit ist sehr mit Angela Merkels Kanzlerschaft verflochten. Im Herbst werden Sie das Ende ihrer Ära publizistisch begleiten, und kurz nach Ihrem Antritt 2015 prägte Merkel in der Flüchtlingskrise den Satz «Wir schaffen das». Ein gefundenes Fressen für Sie.
Es geht nicht um Merkel gegen Gujer. So wichtig nehme ich mich nicht. Es geht um den Unterschied, wie Deutschland und wie die Schweiz auf die Migration blicken. Ein CDU-Bundestagsabgeordneter hat mir einmal gesagt: Eure letzte Asylrechtsreform ist inhuman. In die Wege geleitet wurde diese Reform von einer sozialdemokratischen Bundesrätin. Wir transportieren diesen Schweizer Standpunkt nach Deutschland, und das erzeugt diese Debatte.
Die NZZ wirbt mit dem Slogan «nüchtern, sachlich, unabhängig». Nachdem ein Literaturfestival die Kabarettistin Lisa Eckhart ausgeladen hatte, schrieben Sie im August über die «neuen Tugendwächter» und stellten diese als «Jakobiner» und «Schüler Robespierres» dar. Nüchtern-sachlich ist ein solcher Vergleich nicht.
Das war ein Kommentar!
Ein zugespitzter Kommentar.
Dafür schreibt man Kommentare. Auch da wieder gilt der Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz. In der Schweiz wissen wir durch die direkte Demokratie, dass man keine Themen verhindern kann. Sie brauchen 50'000 Unterschriften für eine Sache, und das ganze Land muss darüber diskutieren. Oder nehmen Sie die Hornkuh-Initiative. Obwohl weder Sie noch ich das Problem zuvor gekannt hatten, mussten wir darüber diskutieren. Sie als SonntagsBlick, wir als NZZ. In Deutschland hingegen glaubt man, dass man eine Debatte steuern kann, dass ein Thema nicht existiert, wenn man es totschweigt. Davon profitieren Stimmen wie die AfD.
Eric Gujer begann seine Laufbahn bei der «Neuen Zürcher Zeitung» 1986 als Praktikant. Geboren wurde er 1962 in Zürich. In Freiburg im Breisgau und Köln studierte er Geschichte und Politikwissenschaften. Für die «NZZ» war er als Korrespondent in Israel, in Moskau und Berlin tätig, ehe er 2013 Auslandchef wurde. Seit März 2015 ist er Chefredaktor. Gujer gilt als Spezialist für deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik sowie für Nachrichtendienstthemen. Er ist mit der Kulturjournalistin Claudia Schwartz verheiratet, die ebenfalls für die «NZZ» schreibt.
Eric Gujer begann seine Laufbahn bei der «Neuen Zürcher Zeitung» 1986 als Praktikant. Geboren wurde er 1962 in Zürich. In Freiburg im Breisgau und Köln studierte er Geschichte und Politikwissenschaften. Für die «NZZ» war er als Korrespondent in Israel, in Moskau und Berlin tätig, ehe er 2013 Auslandchef wurde. Seit März 2015 ist er Chefredaktor. Gujer gilt als Spezialist für deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik sowie für Nachrichtendienstthemen. Er ist mit der Kulturjournalistin Claudia Schwartz verheiratet, die ebenfalls für die «NZZ» schreibt.
Am Schweizer Wesen soll Deutschland genesen?
Nein. In der Soziologie gibt es das schöne Wort Pfadabhängigkeit. Jeder hat seine Geschichte. Ich bin der Letzte, der glaubt, dass die Deutschen die direkte Demokratie übernehmen müssen und dann werde alles gut.
Werden Sie das Büro Berlin noch weiter ausbauen?
Wir sind vorsichtig unterwegs. Wir haben unsere Lehren aus dem Gang nach Österreich gezogen, der nicht funktioniert hat. Wenn wir weiter wachsen, wie wir jetzt wachsen, werden wir ausbauen.
Rechnet sich das Abenteuer eigentlich? Ein deutsches NZZ-Digitalabo kostet 10 Euro für drei Monate.
Zehn Euro pro Monat.
Aber es gibt Sonderangebote.
Ja, die gibt es. Aber kostenlose Angebote gibt es nicht mehr. Wir setzen auf eine Paywall. Die Leute wollen wissen, was sie mittelfristig kriegen. Sie wissen, dass man am Anfang Investitionen tätigen muss. Auch Blick TV hat nicht am ersten Tag Milliarden reingespült.
Nein, das nicht.
Wir haben jetzt eine Chance, im digitalen Geschäft neue Umsatzströme zu generieren. Der BLICK hat eine Reichweitenstrategie, wir setzen auf Digitalabos. Ich glaube, dass man mit Informationsjournalismus Geld verdienen kann. Wir sind gerade daran, es zu beweisen. Wichtig sind einzig faire Wettbewerbsbedingungen. Wenn ich sehe, wie SRF mit Zwangsgebühren einen digitalen Auftritt aufbaut, der völlig mit den Privaten vergleichbar ist, sind das keine fairen Wettbewerbsbedingungen mehr.
Während Sie Ihr Berlin-Büro ausbauten, mussten Sie anderswo Federn lassen, personell und beim Produkt. Im Oktober kündeten Sie die Reduktion von drei auf zwei Bünde an, um sich «noch konsequenter auf aktuelle Lesebedürfnisse ausrichten» zu können. Das ist doch PR-Sprech par excellence. 2015 hatten Sie den Ausbau auf vier Bünde in Aussicht gestellt, wodurch «mehr Übersichtlichkeit geschaffen» werde.
Da muss ich Ihnen widersprechen. Ich hatte mit beiden Aussagen recht. Damals waren die vier Bünde vom Nutzerverhalten angenehmer als die drei Bünde. Aber dazumal hatten wir deutlich mehr Inserate. Die Zeitung war dicker, die Hälfte des Umsatzes erzielten wir mit Werbung. Heute ist es noch ein Viertel. In dieser Situation sind zwei Bünde, bei denen man auch haptisch etwas spürt, kundennäher als drei oder vier Bünde. Diese Bund-Diskussion ist keine Qualitätsdiskussion. Die «Financial Times», eine der besten Zeitungen der Welt, ist eine Einbundzeitung und hat 20 Seiten.
Sie sind im sechsten Jahr als Chefredaktor. Ihre weiteren Ziele?
Die Transformation der Medien noch einmal einen Schritt weiterzubringen. Unsere Kundenbasis noch mehr zu verbreitern. Wir haben als NZZ-Mediengruppe seit November die Benchmark von 200'000 zahlenden Kunden geknackt. So viele wie noch nie.
Was sicher auch ein Corona-Effekt ist.
Auch, aber nicht nur. Die wesentlichen Gründe für den Erfolg sind unser Fokus auf Qualitätsjournalismus und die Umsetzung des digitalen Bezahlmodells im Nutzermarkt. Wir befürchteten, den coronabedingten Sprung nach oben nicht halten zu können. Doch wir sind weiterhin gewachsen. Den Weg bis 300'000, bis 400'000 Abonnenten weiterzuführen, ist etwas, das man sich vornehmen kann.
Idealerweise werden Chefredaktoren regulär pensioniert. Dann hätten Sie noch gut sieben Jahre.
Darüber müssten Sie mit dem Verwaltungsrat reden. Der ernennt und entlässt Chefredaktoren. Ich habe jedenfalls noch grosse Lust weiterzumachen.
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