«Nun fällt die Corona-Ausrede weg»
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Angst vor der Normalität:«Nun fällt die Corona-Ausrede weg»

Nicht wenige fürchten sich vor den Öffnungen
«Nun fällt die Corona-Ausrede weg»

Rückkehr zur Normalität – darüber freuen sich die meisten. Doch manche haben auch Angst vor wieder vermehrten sozialen Aktivitäten. Das zeigt eine Umfrage unter Schweizer Therapeuten.
Publiziert: 20.06.2021 um 17:10 Uhr
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Aktualisiert: 21.06.2021 um 07:38 Uhr
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Jetzt geht es plötzlich schnell. Am 28. Juni fällt in Aussenbereichen wie Bahnhöfen und Freizeitbetrieben die Maskenpflicht. Mit Covid-Zertifikat kann man Discos und Veranstaltungen mit bis zu 5’000 Personen besuchen.
Foto: Keystone
Eliane Eisenring

Nun geht es plötzlich schnell: Am 28. Juni fällt die Maskenpflicht in Aussenbereichen wie Bahnhöfen oder Freizeitbetrieben. Die Gruppengrösse auf Restaurantterrassen ist nicht länger festgelegt, mit Covid-Zertifikat darf man sogar in die Disco und zu Veranstaltungen mit bis zu 5000 Teilnehmern.

Ein weiterer grosser Schritt zurück in die Normalität also. Wenn das kein Grund zur Freude ist!

Doch es gibt auch Menschen, die sich davor fürchten, wieder mehr unter Leute zu gehen. Sie beschäftigt nicht nur die Sorge, sich anzustecken, sondern eine tief sitzende Angst vor Menschen.

Bei einer Umfrage in den USA stellte sich kürzlich heraus, dass es fast der Hälfte aller Amerikaner unwohl dabei ist, von virtuellen wieder zu persönlichen Interaktionen zurückzukehren. «Cave syndrome» nennen Fachleute dieses postpandemische Muster – man verkrieche sich lieber weiter in seiner Höhle. Die Rede ist von «Fono», kurz für Fear of Normal, Angst vor der Normalität, und davon, dass man den «sozialen Muskel» erst wieder trainieren müsse.

Auch in der Schweiz gibts Anzeichen solcher sozialer Ängste. Das zeigt eine Studie von sanasearch.ch, einer Onlineplattform für Angebote aus Bereichen wie Psychotherapie, Alternativmedizin oder Ernährungsberatung.

Die Leute fürchten sich vor der Freizeit

Auf Anfrage von SonntagsBlick befragte Sanasearch 129 Therapeuten, ob sie bei ihren Klienten vermehrt die Angst davor feststellen, in die Normalität zurückzukehren. 47 Prozent der befragten Fachleute – also fast die Hälfte – bejahte; 40 Prozent stellen darüber hinaus fest, dass ihre Klienten sich vermehrt Gedanken machen, wie sie nach Corona ihre Freizeit bewältigen sollen.

Ein genauerer Blick auf die Antworten offenbart verschiedene Arten sozialer Ängste: Manche Menschen befürchten, sozialen Situationen nicht mehr gewachsen zu sein. Sie verspüren ein Gefühl der «Unzulänglichkeit», fürchten «Ablehnung» oder «Fehler zu machen». Britta Behrends (48), Psychotherapeutin für kognitive Verhaltenstherapie und Schematherapie, erklärt: «Man hat Angst, sich peinlich zu verhalten, beurteilt zu werden und vermeintlichen Erwartungen nicht zu entsprechen.»

Andere Ratsuchende wollen heute nicht mehr so viele soziale Verpflichtungen eingehen wie vor der Corona-Krise. Sie verspürten, so die befragten Therapeuten, «fehlende Lust auf Kontakte».

Entfremdung

Laut einer Teilnehmerin der Umfrage führt diese Unlust dazu, dass manche «sich von Menschen entfremdet haben und nicht mehr auf grössere Feste eingeladen werden». Zum Teil hätten ihre Klienten «die Erfahrung gemacht, dass weniger Kontakte angenehm sind. Und nun fällt die Corona-Ausrede weg, um das eigene Meiden von Kontakten zu rechtfertigen».

Das setze viele unter Druck, vor allem diejenigen, die schon vor der Pandemie kontaktscheu waren, betont Yvik Adler (56). Die Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP): «Wer schon vorher soziale Situationen zu vermeiden versuchte, konnte das während der Pandemie; es war plötzlich legitim. Jetzt sind sie wieder die Seltsamen.»

Auch die Rückkehr des hohen gesellschaftlichen Tempos, mit dem das Leben vor Corona ablief, macht Angst. Adler bestätigt: «Das Hochgetaktete hat für viele Menschen seinen Reiz verloren. Man habe gelernt, etwas mehr zur Ruhe zu kommen und sich mehr selber auszuhalten – das sei auch ein Gewinn.» Und den wolle man nun nicht wieder aufgeben.

Neben persönlichen Ängsten machen sich die Klienten der befragten Therapeuten auch Sorgen über die Folgen für das Sozialverhalten der ganzen Gesellschaft. «Einzelne, vor allem junge Erwachsene, befürchten, Freunde könnten sich an die jetzigen Einschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 gewöhnt haben und das soziale Leben könnte sich verringern», so eine Teilnehmerin.

Andere sorgen sich um ihre Kinder und darum, dass «eine Gesellschaft heranwächst, die ein gestörtes Verhältnis zu Nähe und ein vermehrt phobisches (angstbesetztes; Red.) Verhalten zeigt».

Eine gestiegene körperliche Distanz beobachtet auch Psychotherapeutin Adler: «Viele wollen zu Ritualen wie Händeschütteln oder Küsschen gar nicht mehr zurückkehren.» Das sei, wenn man keine Ersatzrituale fände, nicht unbedenklich: «Die Gefahr ist, dass der Abstand – physisch und dadurch auch emotional – auf Dauer gefördert wird. Wir brauchen aber menschliche Nähe.»

Wenn man beispielsweise Begrüssungsrituale weglasse, müsse man stattdessen eine andere Art der Bezugnahme finden.

Die eigenen Bedürfnisse rücken ins Zentrum

Und mit welchen Verhaltensweisen reagieren ihre Klienten auf die Angst vor sozialen Aktivitäten? Im Vordergrund stehen laut Auskunft der Therapeuten «Ausreden finden, um nicht hingehen zu müssen», «kurzfristige Absagen», aber auch die bewusstere Auswahl von Anlässen, zu denen man gehe.

Klienten «fokussieren auf eigene Bedürfnisse, gehen dorthin, wo effektiv der eigene Wunsch sie hinführt», fasst Adler zusammen. Das sei «klar eine positive Wende».

Dass man stärker auf die eigenen Interessen achtet, bewertet eine Therapeutin als weitere langfristige Folge der Pandemie: «Ich denke, dass es ein neues Erlernen der neuen Freiheit gibt, dass gewisse Personen in dem teilweise auch schönen und reizabgeschirmten Rückzug bleiben werden.»

Eine Befragte warnt jedoch davor, «einen neuen Problemkreis zu suggerieren, wo keiner eindeutig ist», denn: «Es ist ratsam, vorsichtig zu sein, ob ein generell neues Krankheitsbild im Zusammenhang mit Covid entstanden ist.»

Derzeit empfinden im Hinblick auf die jüngsten Öffnungsschritte aber vor allem Personen soziale Ängste, die schon vorher ähnliche Phobien hatten.

Ihnen und allen anderen, die gerade sozialen Muskelkater spüren, rät Adler, es langsam angehen zu lassen: «Man sollte sich schrittweise und dosiert der Angst stellen, damit man mehr Sicherheit bekommt und merkt: Ich kann das bewältigen.» Britta Behrends ergänzt: «Es ist wichtig, nicht auf die Angst zu fokussieren, sondern darauf, wie man ähnliche Situationen früher gemeistert hat.»

Damit schon bald wieder alle mehr oder weniger soziale Muskelprotze sein können.

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