Eine ganze Weile schon liegt sie auf der Weide. Kaut auf einem Büschel Grashalmen herum. Rhythmisch. Gelassen. Selma lässt sich nicht stressen. An ihr prallt alles ab. So ist es mit Schwangeren im Spätstadium: Lieber keine Aufregung. Auch Milch muss sie derzeit keine geben. Ihre einzige Aufgabe: Warten. Was man Selma nicht ansieht: Sie ist eine Problemkuh. Eine ziemlich Mächtige. Nur wegen dem Glöggli um ihren Hals. Bewegt sie ihren Kopf zu stark, bimmelt sie damit einen Mann ganz in der Nähe um den Verstand.
Reden möchte der Mann nicht. Weder mit ihr noch mit den Medien. Laut werden könne er aber durchaus, sagt Bauer Ueli Spring. Er ist der Besitzer von Selma. Er sagt: «Einer muss den Kopf hinhalten. Und so bin ich es halt.»
Ueli Springs Kuhglocken sind der Auslöser eines Streits, der die Gemeinde Lyss BE seit 2020 und den Kanton Bern seit diesem Jahr beschäftigt. Er bringt Unruhe aufs Land. Auf der einen Seite steht der Bauer, 57 Jahre alt, dessen Familie seit Generationen Kühe, Gustis, Hühner, Katzen hält und versorgt. Das Bauernhaus steht seit 1832. Auf der anderen Seite ein Nachbar aus der neuen Überbauung neben dem Bauernhof. Ein Zuzüger, ein Schweizer, der im Ruhestand nur noch eines will: Ruhe!
Nachts ist es ihm zu laut
Ein Tag im Oktober auf dem Bauernhof nahe der Alpenstrasse und dem Jungfrauweg. Ueli Spring, graue Faserpelzjacke, sitzt am Küchentisch. In der Pfanne blubbert eine Chabissuppe, auf dem Tisch stehen Gläser voller Quittengelee, die er gestern abgefüllt hat. Daneben: Jassteppich, Karten und Schiefertafel – Zeugnisse der letzten geselligen Runde.
Spring sagt: «Der Klang von Kuhglocken ist etwas vom Schönsten.» Und erzählt: Bis vor vier Jahren seien Tag und Nacht 15 seiner Küche auf der Weide gestanden. «Nie hatte ich auch nur eine einzige Beschwerde.» Alle trugen sie Glöggli und Treicheln, die spezielle Sorte bauchiger Glocken, mit denen Corona-Querulanten an den Demos lärmten. So einer ist er aber nicht. Er will kooperieren. Nur noch ein Tier trägt jetzt ein Glöggli. Ein Kompromiss. Er muss, er weiss: Es geht um viel. Um Tradition. Um Identität. Um Stolz.
Schliesslich hat er seinen Betrieb zu dem gemacht, was er heute ist. Spring übernahm 1995 vom Vater den Hof, baute ihn aus. Heute gehören ihm und einem Geschäftspartner eine Anlage mit 60 Kühen am anderen Ende des Städtchens. Milchwirtschaft. Hier auf dem Bauernhof hält er nur noch knapp eine Handvoll kurz vor dem Kalbern, zwei Kater, 25 Hühner, zehn frisch geschlüpfte «Bibeli» und zwei freche Güggel, die immer wieder dazwischenrufen – noch mehr Lärmverschmutzung!
Für den Bauern lief es gut, er ist im Ort verwurzelt, politisiert für die Mitte im Grossen Gemeinderat, versorgte früher mit dem «Milchexpress»-Wagen die Haushalte. Doch dann zog der sensible Nachbar zu. Und fing vor zwei Jahren mit den Beschwerdeschreiben an: Die Glocken störten, vor allem nachts. Sie sollten weg, vor allem nachts. Und damit begann ein Galopp durch die Ämter.
Erst versuchte die Gemeinde zu vermitteln, traf sich mit dem Nachbar und Spring. Man vereinbarte, dass der Bauer die wenigen Tiere, die es betraf, nicht mehr in Nachbars Schlafzimmernähe grasen lässt. Doch das war schwierig. Dort steht die Badewannen-Tränke. Und trinken müssen sie ja. Der Lärm in Nachbars Ohren blieb. Die Konfliktspirale drehte weiter. Der Mann stellte 2021 ein Gesuch an die Gemeinde. Diese fand: Wir sind nicht zuständig. Der Nachbar zog die Sache an den Kanton weiter. Und der sagte: Stopp, die Gemeinde muss die Lärmemissionen prüfen lassen. Und klären: Ist der Kuhglockenlärm in Lyss für die Nachbarn zumutbar?
Stallgeruch und Geläut stören im ganzen Land
Der Clash zwischen Eingesessenen und Zuzügern ist kein Einzelfall, zieht sich durch die ganze Schweiz. Kuhgebimmel, Stallgeruch, Kirchengeläut – alles, was sich nicht mit penibel gestutzten Gartenhecken abwehren lässt, wird mehr und mehr bekämpft. Die Fälle:
Ab 2014 wurde die Holland-Schweizerin Nancy Holten aus Gipf-Oberfrick AG berühmt und berüchtigt, weil sie gegen Kirchen- und Kuhglocken ins Feld zog.
2015 stritten sich in Wald ZH wegen Rinder-Glöggli die Nachbarn – die Gemeinde verhängte ein nächtliches Kuhglocken-Verbot.
2018 sprach das Bundesgericht in einem ähnlichen Fall im Kanton Luzern ein Machtwort: Das Geläut gehöre zu den örtlichen Gegebenheiten und sei zu leise, als dass es stören könnte.
2020 musste eine Bauernfamilie in Meggen LU unter Tränen alle Mutterschweine und Ferkel weggeben, weil ein Zuzüger fand: Es stinkt.
2021 verhängte die Gemeinde Berikon AG einen nächtlichen Bimmel-Bann für die Kühe eines Bauern.
Das Glöggli zeigt an, wo das Gusti ist
Das könnte auch Spring blühen. Dabei will er doch vor allem eines: dass es seinen Tieren gut geht. Der Bauer hat Vogelhäuschen für Meiseli und Rotschwänzchen in die Bäume gehängt, lächelt, wenn der «Moudi» die Holztreppe hoch flitzt, er hat ihm und seinem vierbeinigen Kumpel ein ganzes Zimmer im Haus überlassen. Spring ist ein Tiermensch. Das treibt ihn in der Kuhglockenfrage an. Er sagt: «Ohne Glocke verliere ich Kühe und Gustis.»
Vor kurzem gab es wieder ein kleines Drama, weil eines ausbüxte, aber keinem sagte, wohin es will. Im Lyssbach machte es halt, dort fand es der Bauer nach zwei Stunden. Er hält seine Handkante an die Hüfte, sagt: «Bis hier war alles nass, ich habe mich deswegen erkältet.» Fest steht für ihn: Mit Glocke hätte man es schneller orten können. Auch im Falle, dass eine ganze Herde wegläuft. Und nun steht der Herbst bevor, stockdichter Nebel zieht bald über die Felder, «keine Chance, entlaufene Tiere wiederzufinden». Ihnen könne «wer weiss was» passieren, so Spring.
Alltagssorgen eines Bauern. Bis seine Mutter, 92 Jahre alt, letztes Jahr ins Pflegeheim musste, teilte sie diese mit ihm. Jetzt ist er alleine – aber nur auf dem Hof. Hinter Spring steht die Nachbarschaft.
Frau Flühmann steht hinter ihm
Katrin Flühmann, 75 Jahre alt, wohnt mit ihrem Mann in einer Attikawohnung gleich neben der Weide. Ihr Bett steht dort, wo die Kühe nachts schlafen. Ein eingespieltes Team: Wenn sie mit ihrem Lagotto, einem Trüffelhund mit krausen Haaren, abends rausgeht, sagt sie, «kommen die Kuehli zu uns heran und sagen Gute Nacht». Jetzt sitzt sie in der Küche des Bauern und sagt: «Ich verstehe den sensiblen Herrn Nachbarn nicht.»
Wie Spring ist auch Flühmann eine Institution in Lyss. Sie war hier Lehrerin, ihr Mann war Direktor der «Güetsi»-Fabrik Arni, bevor Kambly sie aufkaufte. Generationen von Lysser Kindern besserten ihr Sackgeld am Biscuits-Fliessband auf.
Flühmann, gelbes Seidenfoulard, Gold-Ohrstecker, sagt: Im Kirchenchor, beim Zahnarzt – überall sei die Kuhglocken-Sache Thema. «Die Leute wollen die Kuhglocken im Ort behalten.»
Sie wüsste gerne, warum sich ein Nachbar als einziger dagegenstellt. Einmal klingelte sie bei ihm – er war nicht da. Nun macht sie sich ihren eigenen Reim darauf: «Manche Leute zügeln die Knörze, die sie in sich tragen, mit aufs Land und suchen dann im Aussen einen Problemherd.»
Auch Flühmann zog einst mit ihrem Mann zu, von einem anderen Ortsteil. Sie fanden, was sie suchten: Frieden. Wenn sie auf dem Balkon lese und es nebenan bimmle, sei das wie Ferien. Und heimelig. «Wenn es nicht glöggelet, dann tötelets.»
Ganz anders sieht es der genervte Nachbar, wie in Behörden-Papieren steht: Mit der «Gefühlsduselei» rund um die Kuhglockentradition kann er nichts anfangen.
Der Ärger sitzt offenbar tief. Wie bei vielen, die von der Stadt aufs Land ziehen. Sie träumen von der absoluten Idylle mit Bienengesumm und Blumenwiesen. Und wachen auf dem Land dann auf, weil der Bauer frühmorgens mit dem Güllefass hinter dem Traktor den Feldweg entlang rumpelt. Zu einer Zeit also, in der der Güggel schon seit Stunden kräht und die Hunde des Dorfes so dröhnend zu bellen anheben, als husteten sie in leere Melkeimer.
Glocken als geschütztes Kulturgut
Und so platzen mit einem Chlapf Träume wie Ballone. Und ein Wort geistert herum, das man zuvor nur in Öko-Kreisen hörte: Emissionen. Unerwünschter Ausstoss. Bei unseren Nachbarn ist die Debatte in vollem Gange. Dort sieht man das Kulturgut in Gefahr. Will es schützen.
Frankreich machte den Anfang mit einem Gesetz, nachdem 2019 ein Gericht einen Hahn – immerhin das französische Nationalsymbol – vom Tatbestand des frühmorgendlichen Kikerikis freigesprochen hatte. Die Gemeinden können nun ein Inventar mit Gerüchen und Geräuschen anlegen, die erhaltenswert sind – weil identitätsstiftend. Und in Deutschland treibt gerade der Freistaat Bayern ein solches Vorhaben für das ganze Land voran.
Ob Süddeutschland oder Berner Seeland – Grund dafür ist überall die gleiche Entwicklung: Die Stadt frisst sich immer mehr ins Land. So wie in Lyss, es fängt das Dazwischen von Bern und Biel auf. Und das machte aus dem Dorf in den letzten zwanzig Jahren eine Regionalmetropole mit 16’000 Namen im Einwohnerregister – das sind 50 Prozent Zuwachs. Viele der Neuen kommen in Einfamilienhäusern und Schuhschachtel-Blöcken unter, die die letzten grünen Flecken tilgen. Und nun Springs Bauernhof umwuchern. Ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht: Bald gesellen sich zwei Hochhäuser dazu.
Für die Eingesessenen heisst das: Sie müssen Platz machen. Wie sehr, das kommt im Falle von Ueli Spring bald raus. Bei ihm kommen demnächst Experten für Messungen vorbei. Der Lysser Bauvorsteher Rolf Christen sagt: «Wenn die Lärmgrenzwerte überschritten werden, gibt es keine Grauzone, dann handeln wir.»
Vielleicht muss Kuh Selma das Glöggli dann ganz ablegen, vielleicht nur nachts. Ueli Spring bleibt nur noch eines: Hoffen. Und nicht aufgeben. Seine Tiere brauchen ihn. Und so sagt er nach zwei Stunden: «Ich muss weiter.»