Es ist kurz nach Mitternacht, 00.08 Uhr in der Nacht auf Sonntag. Zugchef Bruno R.* (†54) steht auf Gleis 2 in Baden AG, kontrolliert, ob alle Passagiere in den Interregio 36 in Richtung Zürich eingestiegen sind. Ein Routinevorgang. Als sich alle Reisenden im Zug befinden, gibt Bruno R. per SMS das Signal an den Lokführer, dass er losfahren kann.
Alle Türen schliessen sich. Bis auf die, bei der Bruno R. steht. Als der 54-Jährige aus Winterthur ZH einsteigen will und die Türe entsperrt, schnappt diese zu – noch bevor Bruno R. sich ganz im Waggon befindet! Der Zugchef ist eingeklemmt, sein Körper befindet sich ausserhalb des fünftletzten Waggons – doch sein Lokführer sieht davon nichts. Der Zug ist 250 Meter lang. Die Kontrolllampe, die nur leuchtet, wenn noch eine Türe offen ist, erlischt. Alles scheint wie immer. Der Lokführer fährt los. Ein Routinevorgang.
Bruno R. lag tot im Gleisbett
Vom Drama kriegt er nichts mit. Dafür die Passanten am Bahnhof Baden. Geschockt wählen sie um 00.10 Uhr den Notruf der Polizei, wie interne Dokumente der SBB, die BLICK vorliegen, dokumentieren. Zwei Minuten später, um 00.12 Uhr, meldet sich die Kantonspolizei bei der Betriebsleitzentrale der SBB. Eine Person «hänge am Zug». Die SBB alarmieren sofort den Lokführer des Interregio 36, weisen ihn an, in Killwangen AG anzuhalten und seinen Zug zu kontrollieren. Das tut er – und findet nichts!
Der Lokführer des nachfolgenden Regio Express 4793 fährt um 00.13 Uhr in Baden ab, meldet, dass sich am Bahnhof mehrere «verstörte Reisende» auf dem Perron befinden würden. Er fährt auf Sicht, langsam, in Richtung Wettingen. In Wettingen meldet auch er, dass er nichts Aussergewöhnliches feststellen könne. Doch bei der Ausfahrt im Bahnhof Wettingen AG dann die fürchterliche Entdeckung: Eine leblose Person liegt im Gleisbett. Es handelt sich um Bruno R.. Jetzt rückt die Polizei aus. Das Care-Team. Die Strecke wird gesperrt.
Um 4.13 Uhr ist die Spurensicherung beendet, die Totalsperrung aufgehoben. Der Morgenverkehr läuft wie immer. Tagelang kriegt niemand etwas mit. Doch intern sickern erste Informationen durch, erste Gerüchte verbreiten sich. Am Mittwoch informieren die SBB schliesslich die Mitarbeiter über den Horrorunfall.
Einklemmschutzsystem versagt
Doch wie konnte das passieren? Die Überwachungskameras am Bahnhof Baden helfen nicht. Sie zeichnen den entsprechenden Bereich nicht auf. Es ist altes Rollmaterial, das in der Unglücksnacht im Einsatz ist. Es sind die alten, einstöckigen Einheitswagen IV ohne Niederflureinstieg.
Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) untersucht den Unfall. Und kann bereits erste Ergebnisse vorweisen. «Das Einklemmschutzsystem hat an dieser Tür versagt. Somit wurde die Schliesskraft nicht deaktiviert – und die Türflügel trafen den Mann mit voller Wucht. Das haben die Spuren am Sonntagmorgen ergeben», sagt Philippe Thürler von der Sust zu BLICK.
«Wir fordern Antworten, keine Betroffenheitsbekundungen»
Brunos Kollegen sind geschockt. Ein Arbeitskollege: «Unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen, bei den Kondukteuren, die ihn begleitet haben, und beim Lokführer des Unglückszugs. Niemand kann sich vorstellen, was sie jetzt durchmachen.» Heute wollen sie sich um 13 Uhr im Zürcher Hauptbahnhof zu einer Schweigeminute treffen. Ein SBB-Mitarbeiter: «Wir lassen den Bahnhof durch unsere Pfeifen erbeben, dass es bis Bern und bis in den Himmel zu hören ist, bevor wir für Bruno schweigen. Danach fordern wir Antworten, keine Betroffenheitsbekundungen. Die Sicherheitssysteme sind unsere Lebensversicherung.»
Wagen war zuvor in Revision
SBB-Chef Andreas Meyer sagt zu BLICK: «Uns macht das alle enorm betroffen. Die Sust sagt, es handle sich um einen technischen Defekt. Wir können uns das fast nicht erklären, weil der Wagen nur wenige Tage zuvor in Revision gewesen war.» Meyer selbst ist den Tränen nahe, sagt mit brüchiger Stimme: «So was schüttelt man nicht einfach so aus den Kleidern.»
Die SBB haben angekündigt, die Wagentüren des entsprechenden Zugtyps einer vertieften Nachkontrolle zu unterziehen. 493 Stück dieser Waggons sind derzeit im Einsatz. Laut den SBB wurde der betroffene Wagen am 31. Juli das letzte Mal kontrolliert. Offenbar nicht gut genug.
* Name bekannt