Janosch* starb viel zu früh: Am 26. Juli 2010 kommt der acht Wochen alte Säugling in der Wohnung des jungen Paars in Breitenbach SO ums Leben. Jetzt, zehn Jahre später, kam es zum Prozess. Vor dem Gericht musste sich der Vater von Janosch verantworten. Die Staatsanwaltschaft Solothurn hatte Nicolas N.* (34) unter anderem wegen vorsätzlicher Tötung und mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung angeklagt.
N. soll Janosch im Laufgitter mit einem unbekannten Gegenstand die Atemwege abgedeckt und damit erstickt haben. Zudem sollte geklärt werden, warum Janoschs Schwester mit acht Wochen ein Schütteltrauma erlitt. Auch die Mutter stand damals unter Tatverdacht, später wurde das Verfahren gegen sie eingestellt. Die Staatsanwalt hatte 16,5 Jahre Freiheitsstrafe für den Angeklagten gefordert. Die Verteidigung plädierte auf Freispruch.
Nun wurde das Urteil verkündet. Nicolas N. wurde freigesprochen. Begründung: Es gebe keine eindeutigen Beweise, dass der 34-Jährige für den Tod verantwortlich ist. Auch für den Vorfall des Schütteltraumas kann kein Schuldiger eindeutig gefunden werden. Daher der Freispruch in allen Punkten. Es gelte «in dubio pro reo» also «im Zweifel für den Angeklagten», erklärt das Amtsgericht Dorneck-Thierstein. Neben dem Freispruch bekommt Nicolas N. auch eine Genugtuung zugesprochen. Konkret: 65'000 Franken! Dies sei für die 99 Tage U-Haft, Hausdurchsuchung, Telefonüberwachung und das Strafverfahren, das mehrere Jahre andauerte, gerechtfertigt.
Staatsanwalt Raphael Stüdi hatte 16,5 Jahre Haft gefordert. Das Gericht sprach Nicolas N. aber frei. «Selbstverständlich bin ich enttäuscht. Wir hatten guten Argumente. Aber die Indizien waren in der Summe betrachtet wohl nicht stark genug», sagt er im Anschluss an die Urteilsverkündung. Er will das Urteil weiterziehen und erneut die Argumente vorbringen, um zu beweisen, dass Nicolas N. schuldig ist.
«Wir werden wohl nie erfahren, wer wirklich schuld ist»
Es sei kein leichtes Urteil gewesen, so das Gericht weiter. Das Schicksal der beiden Kinder mache betroffen. «Niemand zweifelt daran, dass den beiden Kindern Schreckliches widerfahren ist. Wir werden wohl nie erfahren, wer wirklich schuld ist. Die Person wird aber bis zum Schluss ihres Lebens die Schuld tragen und damit leben müssen.»
Im Anschluss führte das Gericht aus, wieso der Tod des kleinen Janosch und das Schütteltrauma seiner Schwester keiner Person nachgewiesen werden kann. Das Verfahren gegen die Mutter der Kinder wurde vollumfänglich eingestellt. Auch in diesem Verfahren hätte es schon keine eindeutigen Beweise gegeben. Warum sollte das Gericht bei gleicher Beweislast nun Nicolas N. verurteilen.
Andere Personen, wie die beiden Grossmütter der Kinder, scheiden als Täter aus. Besonders die Mutter von N. sei vernarrt in ihre Enkel gewesen.
«Mauer des Schweigens»
Der Prozess ging über mehrere Tage. Am dritten Prozesstag hatte Staatsanwalt Raphael Stüdi sein Plädoyer gehalten. Er zeigte sich erfreut, dass das Bundesgericht den Einsatz der verdeckten Ermittler gestützt hatte und diese «verhältnismässig» vorgegangen seien. Klar, das Leben des Paares sei bis ins letzte Detail überwacht worden. «Das ist definitiv nicht angenehm», so der Staatsanwalt. Aber dies sei nur die Seite des Beschuldigten. Die wehrlosen Kinder hätten nie ein Sprachrohr erhalten.
Zudem habe der Beschuldigte «ziemlich von Anfang an eine Mauer des Schweigens» aufgebaut – auch die Kindsmutter, die beiden Grossmütter, «ja die ganze Familie». Eine Grossmutter habe etwa auf 107 Fragen der Polizei keine einzige Frage beantwortet. Wenn niemand reden würde, auch nicht Freunde, dann müsse die Staatsanwaltschaft auf anderem Weg die Misshandlungen an den beiden Kindern klären. Die Ermittlungen hätten schliesslich dazu geführt, dass das Verfahren gegen die Kindsmutter eingestellt worden sei.
Die erste grosse Frage drehte sich im Plädoyer des Staatsanwalts um die verletzte Tochter. Wer hatte dem Mädchen das Schütteltrauma zugefügt? Die Verletzungsbilder würden auf eine Überforderung hinweisen. Zu dem Zeitpunkt sei es also «entweder der Vater oder die Mutter» gewesen. Die Mutter habe im Verlauf der Ermittlungen ausgeschlossen werden können.
«Ich kann nicht mehr!»
«Die Aufzeichnungen in der Wohnung sind die wichtigsten Beweismittel», sagte der Staatsanwalt. Es sei auf den Aufnahmen eindrücklich, wie die Kindsmutter mit dem Beschuldigten rede. Wie sie darauf dränge, «dass der, der es gewesen ist», Verantwortung übernehme, endlich hinstehe und sage, dass er sie geschüttelt habe. «Ich kann nicht mehr! Bist du es gewesen?», sagte die Kindsmutter laut dem Staatsanwalt zum Beschuldigten. Dies zeige, dass die Mutter daran zu zerbrechen drohte.
Doch der Beschuldigte habe nur abgewiegelt, habe lediglich gesagt, dass das Töchterchen schon geschüttelt worden sein könnte. Sie habe dann erwidert: «Zu 99 Prozent!» Der Umstand, dass die Mutter in dieser Unterhaltung dem rechtsmedizinischen Gutachten folge, «ist für sie entlastend», sagte der Staatsanwalt. Wäre sie die Täterin, würde sie beim Beschuldigten ja nicht immer wieder insistieren.
Sie habe ihn auch an anderen Tagen wieder gefragt: «Hast du sie geschüttelt?» Er habe daraufhin nur gesagt: «Du fragst immer.» Und sie wieder: «Ich werde noch 1000 Mal fragen!» Für den Staatsanwalt war klar: «Beschuldigte Personen, die schuldig, aber nicht geständig sind, möchten am liebsten nicht darüber reden. Weil die Möglichkeit besteht, dass sie sich verreden. Wie der Beschuldigte.»
Hämatom auf der Backe
Der Staatsanwalt sprach über Indizien und Beweise, die den Beschuldigten auch im Fall des erstickten Buben überführen sollen. Um etwa 17.30 Uhr sei der Bub ins Laufgitter gelegt worden. Dann habe die Kindsmutter in der Küche Einkäufe ausgeräumt. Der Beschuldigte sei im entscheidenden Zeitraum immer allein beim Baby gewesen. Weil es schrie, sei er zum Laufgitter gegangen, habe seine Hand auf dessen Mund gelegt – das belege ein frisches Hämatom auf der Backe. Dann sei es innert kürzester Zeit «still» gewesen.
Die Kindsmutter habe den Beschuldigten dann «Nein, nein, nein!» schreien gehört. Er habe dann noch versucht, das Baby zu reanimieren. Später habe der Beschuldigte jedoch ausgesagt, er habe nach etwa fünf Minuten in der Stube «ein Pfeifen» vom Baby im Laufgitter gehört. Er sei dann hin und habe den Buben «ganz blau angelaufen» gesehen.
Nur: Laut dem Staatsanwalt konnte N. das frische Hämatom auf der Backe des Babys nicht erklären. Grund dafür sei genau diese stumpfe Gewalt auf den Mund gewesen und diese lasse sich sehr gut in Zusammenhang bringen mit dem Erstickungstod.
Der Bub sei zudem schon früher mehrfach «grausam misshandelt» worden. Auch der Bub sei geschüttelt worden. Hinzu komme, dass N. Aussagen belasteten, die in mehreren Amtsberichten der verdeckten Ermittler stehen würden. Der Staatsanwalt bezeichnet die Tat als besonders heimtückisch, der Beschuldige sei gefühlskalt. «Ich kann bei ihm keine Reue, kein Bedauern ausmachen», sagt er. «Alles, was ich höre, sind Klagen.»
Genugtuungsforderung für Tochter
Danach war die Privatklägerschaft, die Anwältin des Mädchens, an der Reihe. Sie erzählt eindrücklich, wie schwer es das Kind nach dem Schütteltrauma hatte, welche Operationen nötig waren und welchen Leidensweg es durchgemacht hat. Es sei bis zum Alter von sechs Jahren bei einer Pflegefamilie gewesen. Seit 2018 lebe das Mädchen wieder bei der Mutter.
Das Mädchen habe zum jetzigen Zeitpunkt keine bleibenden Schäden, was sich aber durchaus noch ändern könne. Die Anwältin fordert eine Genugtuung von 30’000 Franken für die Tochter des Beschuldigen. Sie hält jedoch fest: Kein Geld der Welt werde den Schmerz des Mädchens mildern.
«Aggressive» und «illegale» Untersuchungen
Die Verteidigerin des Beschuldigten kritisierte zu Beginn ihres Plädoyers das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und der verdeckten Ermittler scharf. Die ganzen «aggressiven» und «illegalen» Untersuchungen, die sie als «Armutszeugnis für unsere Justiz» bezeichnet, hätten immerhin ergeben, «dass mein Klient unschuldig ist». Es gäbe nämlich bis heute keine Hinweise darauf, was mit den beiden Kindern wirklich passiert sei.
Die Verteidigerin des Beschuldigten sprach bei den Verletzungen am Buben allenfalls von einem Unfallgeschehen. Sie fragte etwa bezüglich Rippenbrüchen: «Können wir ausschliessen, dass die damals übergewichtige Kindsmutter im Schlaf auf den Buben gerollt oder bei einem Ohnmachtsanfall aufs Kind gefallen ist?»
Und bezüglich möglichem Ersticken habe die Obduktion lediglich ergeben, dass «eine Luftunterversorgung» vorgelegen habe. «Die Ursache dafür bleibt aber ein Rätsel», so die Verteidigerin des Beschuldigten weiter. «Letztlich weist nichts, wirklich nichts darauf hin, dass es ein Tötungsdelikt war und mein Klient seinen Sohn, den er geliebt hat, erstickt hat.» Es lasse sich auch kein Motiv ausmachen.
Verteidigung verlangte Freispruch
Laut der Verteidigerin hätten sich die Ermittler sofort darauf eingeschossen, dass ihr Klient das Kind geschüttelt hat. Nur, weil er mit ihr für ein paar Stunden alleine gewesen sei. «Wer sagt, dass nicht schon vorher etwas mit dem Mädchen passiert ist?»
Ihr Klient habe inzwischen alles verloren. Dabei könne es tatsächlich ein Unfallgeschehen gewesen sein – und diese Möglichkeit dürfe man nicht ausblenden. Sie fordert einen Freispruch für Nicolas N. Und: Sie verlangt 19’800 Franken Haftentschädigung für ihren Klienten. Sein Leben sei «in Scherben». Sie fordert deshalb für ihn auch noch eine Genugtuung von 120’000 Franken.
Nicolas N. hätte noch das letzte Wort gehabt. Doch er sagte schon wie während dem ganzen Prozess: Nichts.
* Namen geändert