Heute sass der heute 25-jährige Mike M.* auf der Anklagebank vor dem Richteramt Dorneck-Thierstein in Dornach SO. Der Grund: Der Jungunternehmer aus der Westschweiz fuhr am 19. Juni 2019 gegen 17.10 Uhr auf der Gempenstrasse in Richtung Gempen SO. Da passierte es: «Auf einer unübersichtlichen, kurvenreichen Strecke überholte der Lenker des Sportwagens mehrere Fahrzeuge», wie die Kantonspolizei Solothurn damals in einer Medienmitteilung schrieb.
Das riskante Überholen hatte fatale Folgen: Auf der Gegenfahrbahn knallte Mike M. mit seinem Wagen frontal in einen korrekt in Richtung Dornach fahrenden Velofahrer (38). Dieser zog sich lebensgefährliche Verletzungen zu und wurde mit der Rega in ein Spital geflogen. Mike M. blieb beim Unfall unverletzt.
«Ich nehme Schlafmittel und gehe zu einem Psychologen»
Als er heute das Gerichtsgebäude betritt, hält er sich den Arm vors Gesicht. Er trägt einen grauen, halblangen Mantel. Bevor die Befragungen beim Prozess beginnen, übergibt der Anwalt von Mike M. dem Gericht noch ein Arztzeugnis, das belegen soll, dass der Angeklagte psychologisch betreut wird. Dann beginnt die Befragung von Mike M. zur Person. «Es geht mir besser als am Anfang», sagt der Beschuldigte. Er habe jedoch «seit zwei Jahren» Schlafprobleme. «Ich nehme Schlafmittel und gehe zu einem Psychologen, wenn ich es benötige.»
Vor Gericht kommt aus, dass Mike M. über 640'000 Franken Schulden hat. Gleichzeitig besitzt er Uhren im Wert von 20'000 Franken und ein Auto im Wert von 50'000 Franken, wie er sagt. Laut seiner Steuererklärung für das letzte Jahr hat Mike M. ein Vermögen von 565'000 Franken – dies soll «aus Teilen von Firmen, die ich hatte» stammen. Andere Teile von Firmen habe er noch. Mike M. gibt vor Gericht an, dass er keine Familie und keine Kinder habe.
Insgesamt 24 Knochenbrüche erlitten
Im Anschluss wird der Velofahrer befragt, der vom McLaren mit Mike M. am Steuer gerammt wurde. Er erzählt eindrücklich, dass wegen den schweren Kopfverletzungen die Erinnerungen an die Zeit nach dem Unfall komplett weg seien und er sich erst an die Zeit vom August 2019 wieder erinnern könne.
Der Unfall hat Spuren hinterlassen. Nichts ist mehr so wie zuvor. «Meine Arme und Beine sind nicht mehr so flexibel und stark wie früher», so der 38-Jährige. «Auch ein Teil meiner Persönlichkeit hat sich verändert.» Das alles sei eine riesige Herausforderung in seinem Leben.
Er habe insgesamt 24 Brüche erlitten, sei insgesamt sieben Mal operiert worden, lange im Rollstuhl gesessen und heute zurzeit noch 30 Prozent arbeitsfähig, erzählt der Velofahrer weiter. Er habe in der Therapie wieder lernen müssen aufs Velo steigen zu können.
Vom Beschuldigen sei er nach dem Unfall «nicht direkt» kontaktiert worden. Er habe einen Brief von Mike M. erhalten und ihn später gelesen, als er wieder wach gewesen sei.
Velofahrer überlebte nur dank schneller Rettung
Der Staatsanwalt hält zu Beginn seines Plädoyers fest, dass im Gerichtssaal nur eine Person geschädigt sei: der Velofahrer. Und nicht etwa der Beschuldigte. Dieser sei als Täter angeklagt. Das dürfte nicht vergessen werden.
Dann führt der Staatsanwalt aus, dass die GoPro-Kamerabilder vom Velofahrer als Beweismittel zuzulassen seien. Es sei zudem erstellt, dass Mike M. nach dem Unfall nicht etwa stehengeblieben, sondern seinen Wagen auf die rechte Fahrspur gefahren und ihn erst dort abgestellt habe.
Schliesslich habe der Velofahrer nur dank der schnellen Erstversorgung an der Unfallstelle durch eine per Zufall in einem Auto mitgefahrenen Krankenschwester und der sofortigen Notoperation im Spital überlebt.
«Er hat uns in einem Affenzahn überholt»
Zudem berichtet der Staatsanwalt von etlichen Zeugen, denen der McLaren aufgefallen war. «Hoffentlich fährt der nicht noch in mich hinein», habe eine Person unter anderem ausgesagt. Eine andere berichtete: «Er hat uns in einem Affenzahn überholt.» Oder: Eine weitere Person sagte in ihrem Auto vor sich hin: «Was für ein Vollidiot!»
Der Staatsanwalt ist überzeugt: «Der Beschuldigte versucht, seine Fahrweises schönzureden!» Es sei klar, dass Mike M. rausfinden wollte, wie der Sportwagen, den er sich schon immer gewünscht habe, in den Kurven liegt. «Er wähnte sich als Rennfahrer.»
Der vorliegende Fall sei «ein besonders krasser Fall» im Strassenverkehr. Der Beschuldigte habe um die konkrete Gefahr gewusst und sich dennoch für das Überholmanöver «unter dem Motto Hoffnung» entschieden. «Somit hat er vorsätzlich gehandelt», sagt der Staatsanwalt. Er fordert für Mike M. eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten.
«Er hatte grosses Glück»
Der Anwalt des Velofahrers folgt den Ausführungen des Staatsanwalts und fordert für seinen Mandanten zudem Schadenersatz und Genugtuung. Er spricht von dessen langen Leidensweg nach dem Unfall. «Er hatte grosses Glück, dass er den Unfall überlebt hat und heute hier sein kann», so der Anwalt. Sein Mandant müsse nach wie vor in die Therapie. Und es sei zu befürchten, dass er sie sein Leben lang beanspruchen müsse. Zudem sei die Ehe seines Mandanten seit dem Unfall «arg strapaziert» worden.
Schliesslich plädiert vor Gericht der Verteidiger von Mike M. Es sei klar, dass sein Mandant verurteilt werden müsse. Aber: «Er hielt sich immer an die Verkehrsregeln.» An der Unfallstelle gäbe es keine Sicherheitslinie. Deshalb sei sein Überholmanöver «zulässig» gewesen - ohne, dass eine Gefahr bestanden habe. Und, so der Anwalt von Mike M.: «Seine Geschwindigkeitsüberschreitung war nicht krass.» Deshalb sei auch kein Vorsatz gegeben. Schliesslich habe sein Mandant «nicht voraussehen können», dass der McLaren ins Schleudern geraten würde. Er fordert für Mike M., «der niemanden in Gefahr bringen wollte», eine bedingte Gefängnisstrafe von zwölf Monaten.
«Er fährt doch sonst wie ein Opa»
Gegenüber Blick nahm die Marianne M.* (57), die Mutter von Mike, damals ihren Sohn in Schutz. «Er fährt doch sonst wie ein Opa und hat noch nie einen solchen Fehler gemacht!», sagte sie. Er leide wegen des Unfalls. Und: «Er hofft, dass der Velofahrer überlebt.»
Mike M. war eigentlich nur auf Probefahrt. Er war mit einem McLaren Spider (570 PS) unterwegs, weil er seinen Porsche gegen den 250'000-Franken-Sportwagen eintauschen wollte. «Normalerweise bieten wir keine Probefahrten an. Aber der Mann hatte eine Kaufabsicht und die finanziellen Mittel. Er besass schon einen Porsche und schien seriös», erklärte der Geschäftsführer der Firma damals, die den McLaren zur Probefahrt zur Verfügung gestellt hatte.
Mike M. soll laut Anklage zu schnell gefahren sein
Laut Anklageschrift, die das Gericht heute Morgen veröffentlichte, soll Mike M. «wissentlich und willentlich mit übersetzter Geschwindigkeit» gefahren sein und das letzte Überholmanöver «vor einer unübersichtlichen Kurve» vorgenommen haben. Die Anklage ist zudem überzeugt: «Durch seine waghalsige Fahrweise und aufgrund überhöhter Geschwindigkeit während der Autofahrt, brachte der Beschuldigte das Opfer in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr.»
Mike M. soll laut Anklage vor dem Unfall auf der Ausserortsstrecke konkret zwei Autos überholt haben und dabei auf «mindestens 100 km/h» beschleunigt haben. Beim Aufprall mit dem Velofahrer, der den McLaren kommen sah und noch abbremste, soll der Sportwagen noch eine Kollisionsgeschwindigkeit von 50 bis 58 km/h und der Velofahrer zwischen 24 bis 28 km/h gehabt haben.
Mike M. sagt vor Gericht, er habe auf einen Aussichtspunkt fahren wollen und diese Strecke gekannt. Als er gesehen habe, dass zwei Fahrzeuge sehr langsam und nahe hintereinander gefahren seien, habe er die Möglichkeit gesehen, um zu überholen – dies habe er dann auch getan. «Ich habe dann wieder zurück auf der Fahrbahn abgebremst und aus einem Grund, den ich nicht kenne, die Kontrolle übers Fahrzeug verloren», sagt Mike M. «Und dann hat es diesen Unfall gegeben.»
«Ich geriet in Panik»
Die Gerichtspräsidentin sagt, dass er laut Gutachten eine Geschwindigkeit zwischen 93 und 98 km/h gehabt habe. Sie fragt den Angeklagten: «Was haben Sie sich dabei gedacht, die Kurve mit einer solchen Geschwindigkeit zu befahren?» Mike M.: «Ich war mir jeden Moment sicher, dass ich dort überholen konnte.» Er hätte nicht das Risiko auf sich genommen, wenn er gewusst hätte, dass er jemanden in Gefahr bringt. «Vor allem nicht mich selber.»
Als er den Velofahrer habe kommen sehen, habe er Angst gehabt. «Ich geriet in Panik und habe noch fester gebremst, um den Wagen wieder auf die richtige Fahrbahn zurückzubringen», so Mike M. Doch dies sei nicht möglich gewesen.
Opfer erlitt mehrere Brüche am Schädel
Der Velofahrer, so die Anklage, erlitt unter anderem mehrere Schädelbrüche und Brüche am ganzen Körper. Er war bis 3. August 2019 in stationärer und ambulanter Behandlung. Aufgrund der Schädel-Hirn-Verletzung kam es zu Wesensveränderungen. Zudem muss mit Bewegungseinschränkungen gerechnet werden.
Gegenüber TeleM1 beteuerte Mike M. nach dem Unfall: «Ich bin nicht zu schnell gefahren und habe den Velofahrer auch gesehen, aber halt erst zu spät.»
Urteil am Donnerstagnachmittag
Mike M. musste sich heute wegen folgenden mutmasslichen Delikten vor Gericht verantworten: versuchte vorsätzliche Tötung, eventuell schwere Körperverletzung in echter Idealkonkurrenz zur Gefährdung des Lebens, Gefährdung des Lebens und mehrfache qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln.
Beim letzten Wort vor Gericht entschuldigte sich Mike M. beim Velofahrer und sagte, dass er ihm «zur Verfügung» stehe, wenn er etwas benötige.
Das Gericht will das Urteil am Donnerstag um 16 Uhr verkünden.
* Namen geändert