«Wir sind am Anschlag»
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Pflegerin kann nicht mehr:«Ich bin immer noch müde vom Frühling»

Jetzt spricht Irina Hellmann (29) von Corona-Intensivstation
«Wir sind am Anschlag»

Jeden Tag, jede Nacht kämpfen sie auf den Intensivstationen um das Leben von Corona-Patienten. Doch die Pflegefachleute kommen an ihre Grenzen. Wie Irina Hellmann (29) aus Aesch BL, die den Mut hat, öffentlich von ihrem harten Job zu erzählen.
Publiziert: 30.10.2020 um 23:14 Uhr
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Aktualisiert: 12.01.2021 um 10:05 Uhr
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Irina Hellmann (29) im Gespräch mit BLICK.
Foto: Ralph Donghi
Ralph Donghi

Die Corona-Fälle steigen und steigen. Die Intensivstationen vieler Spitäler sind am Anschlag. An vorderster Front: die Pflegefachleute, die die Covid-19-Kranken behandelt müssen. In voller Schutzmontur, teils in Zwölf-Stunden-Schichten. Ihre grösste Angst: Dass es auf den Stationen bald keinen Platz mehr hat und andere Kranke oder Unfallopfer nicht mehr behandelt werden können.

Doch kaum einer dieser Pflegefachleute getraut sich, öffentlich über diese schwierigen Umstände zu reden – die Angst vor einem Jobverlust ist zu gross. Nicht bei Irina Hellmann (29) aus Aesch BL. Sie arbeitet seit 13 Jahren im Kantonsspital Baselland am Standort Bruderholz und ist dort seit 2014 auf der Intensivstation tätig. Sie sagt zu BLICK: «Wir sind am Anschlag. Es ist jetzt wichtig, dass reagiert wird.»

Situation auf Intensivstation angespannt

Irina Hellmann spricht die Öffentlichkeit und die Politiker in Bundesbern an. «Unsere Pflege-Initiative muss angenommen werden», fordert sie. «Nicht nur teilweise, dass nur in die Ausbildung investiert wird, sondern vor allem auch, dass die Pflegefachleute im Beruf bleiben und nicht aussteigen.»

Vor allem nicht in einer Situation wie jetzt. «Sie ist angespannt», sagt Hellmann. Niemand wisse, wie viele Menschen plötzlich eingeliefert würden. «Wir wissen nur, was uns vom Krankheitsbild her erwartet, wir konnten im Frühling viele Erfahrungen sammeln.»

Zwölf-Stunden-Schichten eingeführt

Die Fachfrau Gesundheit und diplomierte Pflegefachfrau erinnert sich gut an den März: «Als das Virus kam.» Sie hätten in einer Woche das Spital auf den Kopf gestellt. «Wir haben die Beatmungsplätze raufgefahren. Geräte organisiert. Personal rekrutiert. Das Militär erhalten. Und dann waren plötzlich die Patienten da.» Sie hätten alles für sie getan: «Wir mussten Zwölf-Stunden-Schichten einführen.»

Doch kaum hätten sie sich so langsam eingelebt, sei «der Spuk» fast wieder vorbei gewesen. Hellmann: «Es kam der Sommer, wo wir weniger Covid-Patienten hatten.» Da habe sich «die obere Etage» sehr viele Gedanken gemacht, wie es weitergeht, wenn eine zweite Welle kommt. Vor allem bezüglich Strategie und Personal.

Nur noch essen und ins Bett fallen

Nur: «Jetzt sind wir in der zweiten Welle, und das Personal ist nicht so schnell rekrutierbar wie in der ersten Welle, bei der auch Pfleger vom Normalbetrieb einsprangen», sagt die Intensivpflegerin. Hinzu komme: «Wir hatten schon lange vor der Pandemie zu wenige Leute.» Viele würden vom Beruf abspringen, weil sei ausgelaugt seien. Die harte Schichtarbeit, der schlechte Lohn, die schwierigen Arbeitsbedingungen. Sie weiss: «Das alles zeigt sich in einer Pandemie umso extremer!»

Dennoch will sie nicht «jammern», obwohl sie nach einer Schicht «sehr kaputt» sei. Wenn sie heimkommt, isst sie noch was und fällt dann ins Bett. «Das ist sehr herausfordernd, wenn man noch eine Familie hat.» Warum tut sie sich das alles an? «Es ist die Liebe zum Beruf. Wenn ich an den Betten stehe, weiss ich: Es ist das Richtige.» Sie habe zudem noch Energie. Nur: «Ich weiss nicht, wie lange.»

Sorge, dass die Kranken unbehandelt zurückbleiben

Darum nimmt Irina Hellmann diese Woche an den schweizweiten Aktionen vom Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner teil. «Es muss endlich etwas auf politischer Ebene gehen», sagt auch Pierre-André Wagner (59) vom Berufsverband. Bundesbern habe im Sommer genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was das Gesundheitssystem wert ist, und vorwärtszumachen.

Die allergrösste Sorge von Hellmann ist: «Dass es nach der zweiten Welle wieder weitergeht wie bis anhin, viele Pflegefachleute nicht mehr können und die Kranken am Ende unbehandelt zurückbleiben.»

Dafür gehen sie auf die Strasse

Mit Applaus dankte im Frühjahr die Bevölkerung den Pflegern für ihre Arbeit während der Corona-Krise. Doch nette Gesten und schöne Worte seitens der Politik reichen den Angestellten nicht mehr. Das Pflegepersonal, ob im Spital, Altersheim oder Spitex-Dienst, will für Einsatz, Leistung und gesundheitliche Belastung angemessen entschädigt werden. So riefen die Verbände SBK, VPOD und Syna im Bündnis der Gesundheitsberufe zu einer Aktionswoche auf. Ihre Forderungen: Ein Monatsgehalt als Corona-Prämie, mehr Mitspracherecht im Arbeitsalltag, höhere Zuschläge, bessere Arbeitsbedingungen, besseren Schutz auch gegen Stress und mehr Lohn. Zudem soll Schluss sein mit der «Pflege à la minute», die kaum Zeit für die Patienten erlaubt, und es soll mehr Pflegepersonal eingestellt werden. Heute kommt es in Bern zur grossen Abschlussdemo. (Myrte Müller)


Pflegekräfte am Anschlag: wie hier in einem Spital im Tessin.
Keystone

Mit Applaus dankte im Frühjahr die Bevölkerung den Pflegern für ihre Arbeit während der Corona-Krise. Doch nette Gesten und schöne Worte seitens der Politik reichen den Angestellten nicht mehr. Das Pflegepersonal, ob im Spital, Altersheim oder Spitex-Dienst, will für Einsatz, Leistung und gesundheitliche Belastung angemessen entschädigt werden. So riefen die Verbände SBK, VPOD und Syna im Bündnis der Gesundheitsberufe zu einer Aktionswoche auf. Ihre Forderungen: Ein Monatsgehalt als Corona-Prämie, mehr Mitspracherecht im Arbeitsalltag, höhere Zuschläge, bessere Arbeitsbedingungen, besseren Schutz auch gegen Stress und mehr Lohn. Zudem soll Schluss sein mit der «Pflege à la minute», die kaum Zeit für die Patienten erlaubt, und es soll mehr Pflegepersonal eingestellt werden. Heute kommt es in Bern zur grossen Abschlussdemo. (Myrte Müller)


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