Es ist ein Horror-Crash, der sich am 17. September bei der Verzweigung A5/A1 Höhe Luterbach SO ereignet: Ein Sattelschlepper knallt mit voller Wucht in den blauen Kleinwagen von Behane T.* (29). Er ist mit seiner Schwester, deren Mann und Kind in Richtung Zürich unterwegs ist – und steht gerade im Stau. «Ich habe den Lastwagen nicht kommen sehen», sagt der Logistiker aus Buchs AG zu Blick. «Es fuhr uns voll ins Heck!» Sie haben grosses Glück, werden nur leicht verletzt: «Wir können froh sein, dass wir noch leben.»
Der Wagen von Behane T. wird in zwei weitere Autos geschoben, in einem davon sitzt Paul S.* (77) am Steuer. «Ich hatte bereits gesehen, dass es weiter vorne stockenden Verkehr gibt – da hat es schon geklöpft», sagt der Rentner aus dem Aargau zu Blick. Als er aussteigt und sein Auto sieht, bricht es ihm fast das Herz: «Mein geliebter Mercedes-Oldtimer, den ich 1987/88 neu gekauft hatte, war völlig eingedrückt. Eine Reparatur würde viel Geld kosten.»
Aber auch Paul S. ist froh, dass er überhaupt noch lebt. «Ich erlitt nur leichte Verletzungen am linken Oberarm und am Brustkorb, vom Steuerrad.»
Rund 90'000 Fahrzeuge täglich
Der Unfall ist einer von vielen, die sich zwischen Luterbach und Gunzgen SO sowie auf der einmündenden A2 in Richtung Egerkingen SO fast wöchentlich ereignen. Kein Wunder, denn rund 90'000 Fahrzeuge befahren die Spuren auf den Abschnitten täglich. Die Autobahn A1 gilt längst als eine der schlimmsten Strecken im Mittelland – nicht nur zu Stosszeiten.
Jürg Grieder (60) aus Diessenhofen TG ist seit 36 Jahren LKW-Chauffeur und findet klare Worte: «Diese Hauptverkehrsachse ist einfach ein grosser Mist!» Denn: «Wenns nebst Stau auch noch einen Unfall gibt, dann hat man ganz verloren.»
Leicht mehr Unfälle als im Vorjahr
Auch Autofahrer Beat Frei (69) aus Bassersdorf ZH kennt die Strecke. «Ich bin mir längst bewusst, dass man hier auf der A1 von Zeit zu Zeit in den Stau kommen kann», so der pensionierte Spediteur. «Eine kleine Unaufmerksamkeit hinter dem Steuer, und schon kann es zu einem Unfall kommen.»
Seit Anfang Jahr bis zum letzten Vorfall am 18. September vermeldete die Kantonspolizei Solothurn mindestens 23 Vorfälle. Dabei gab es 36 Verletzte und gar ein Todesopfer.
Beim Bundesamt für Strassen sagt Sprecherin Esther Widmer (61), dass Schweizer Autobahnen «sehr sichere Strassen» sind, trotz hohem Verkehrsaufkommen. Dennoch sind dem Astra die Probleme auf dem knapp 25 Kilometer langen A1-Abschnitt Gunzgen–Luterbach bekannt. «Er ist sehr stark belastet, mit den negativen Folgen Stockungen, Stau und erhöhtes Unfallrisiko», sagt Widmer.
Sechsspurausbau verzögert sich
Mittlerweile weichen einige Autofahrer auf Kantonsstrassen aus, um dem Stau zu entgehen – was beim Astra ungern gesehen wird. Diese würden «nicht ansatzweise» die Kapazitäten aufweisen, um als Alternative zu dienen. Sprecherin Widmer: «Zudem sind sie wesentlich unfallträchtiger als Autobahnen.»
Dieser Entwicklung im Gäu wirkt das Astra mit einem Sechsspurausbau zwischen Härkingen und Luterbach entgegen. Allerdings verzögert sich das Projekt, gegen die Plangenehmigungsverfügung vom Dezember 2020 wurde Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht.
Bereits diverse Massnahmen umgesetzt
Um die Autobahn sicherer zu machen, hat das Astra diverse Massnahmen ergriffen: Zum einen wurden bei der Verzweigung Härkingen der Verzögerungsstreifen aus Bern in Richtung Basel beziehungsweise der Beschleunigungsstreifen aus Basel in Richtung Bern massiv verlängert, um mehr Platz zum Ein- und Ausfahren zu schaffen.
Weiter ist zwischen Härkingen SO und Wangen an der Aare BE ein Verkehrsbeeinflussungssystem eingerichtet. Bei viel Verkehr wird 80 km/h Höchstgeschwindigkeit signalisiert. «Bei rund 80 km/h hat eine Autobahn die höchste Kapazität, der Verkehr bleibt so länger flüssig, viele Spurwechselmanöver fallen weg», erklärt Widmer. «In der Folge sinken sowohl Stau- als auch Unfallrisiko.»
Vorwiegend Auffahrunfälle
Zudem sind ab 1. Januar neue Verkehrsregeln in Kraft getreten. Widmer: «So wurde im Kolonnenverkehr das Rechtsvorbeifahren erlaubt und das Reissverschlusssystem bei Spurabbauten oder Einfahrten vorgeschrieben.»
Aber schlussendlich nützen alle Massnahmen und Bauten nichts, wenn die Autofahrer nicht mitziehen – oder am Steuer wegen dem Handy oder anderem abgelenkt sind. «Bei den meisten Unfällen auf Autobahnen handelt es sich um Auffahrunfälle. Grund dafür sind zu geringer Abstand, Ablenkung oder beides in Kombination», erklärt Dominic Jakob, Chef Verkehrstechnik bei der Kapo Solothurn.
Für LKW-Chauffeur Jürg Grieder gibt es nur eine Lösung: «Die Strecke zwischen Zürich und Bern müsste durchgehend sechsspurig sein.» Autofahrer Beat Frei glaubt hingegen, dass dies nicht viel nützen würde, und sieht keine Verbesserung der Verkehrssituation: «Wir haben in unserem kleinen Land einfach zu viele Menschen und zu viele Fahrzeuge.»
Bisher keine Entschuldigung vom LKW-Chauffeur
Ganz andere Sorgen haben im Moment die beiden Verletzten vom Auffahrunfall in Luterbach. «Mich schmerzen heute noch der Brustkorb und der Rücken», sagt Behane T. «Zudem kann ich nachts nicht gut schlafen, weil mir immer wieder diese Bilder durch den Kopf gehen. Ich werde den Unfall mein Leben lang nicht vergessen.» Und was sagt er zum LKW-Chauffeur? «Wenn er kein gesundheitliches Problem gehabt hat, dann war er vermutlich unkonzentriert und hat nicht vorausgeschaut.» Er habe sich noch nicht bei ihm entschuldigt.
Auch Paul S. hat vom LKW-Chauffeur «noch nichts gehört», wie er sagt. «Auch nicht von seinem Arbeitgeber. Das finde ich eine Sauerei. Denn das Ganze hätte tödlich ausgehen können.»
Der LKW-Chauffeur (30) aus dem Aargau sagt zu Blick, dass ihm leidtue, was passiert sei. Warum er ins Kolonnenende gekracht ist – dazu will er nichts sagen.
* Namen bekannt