Es ist die Zeit der Trickser. Das Wundermittel ist knapp, jeder will es haben, aber die Regeln wechseln ständig. Das ruft Drängler auf den Plan – Zeitgenossen, die ähnlich beliebt sind wie Denunzianten, eine unangenehme Erscheinungsform von gesellschaftlichem Stress. Wer drängelt, hat immer eine plausible Erklärung. Tricksen tun ja nur die anderen.
Aktuelle Meldungen lassen erahnen, wie geschummelt wird, um an einen Impftermin zu kommen: Eine Gruppe Drängler kaperte die interne Telefonnummer des Spitals Luzern, andere deuteten ihre WG grosszügig zur seniorengerechten Gemeinschaftswohnung um, besonders Rabiate rückten ihrem Hausarzt derart zu Leibe, dass er sich genötigt sah, schleunigst ein Attest auszustellen – so berichteten es Tamedia-Zeitungen.
Der neuste Trick ist bestechend simpel. Statt lediglich am eigenen Wohnsitz melden sich die Ober-Ungeduldigen gleich in mehreren Kantonen an. Die Masse der Registrierungen machts, irgendwo wird es schon klappen, wie eine Impftouristin der Pendlerzeitung «20 Minuten» freimütig anvertraute.
Verboten ist es nicht
Verboten ist dieses Verhalten nicht. Das Bundesamt für Gesundheit gab jüngst bekannt, man dürfe sich grundsätzlich überall in der Schweiz impfen lassen. Nur krankenversichert muss man dafür sein.
Die grosse Impftourismuswelle steht wohl aber erst noch bevor: Diese Woche verkündeten einzelne Kantone, künftig alle Einwohner über 18 Jahren zu immunisieren. Waadt startet bereits, Solothurn, Uri und Aargau wollen Mitte Mai nachziehen.
Wie eine SonntagsBlick-Umfrage zeigt, sind Impfreisende derzeit aber eher noch eine Randerscheinung. So stammen im Appenzell Ausserrhoden rund acht Prozent der Anfragen aus anderen Kantonen. Auch Bern nennt einen einstelligen Prozentwert. Zürich spricht sogar von «weniger als einem Prozent». Kein Wunder – bei der Impfschnecke unter den Kantonen versucht kaum ein Drängler sein Glück.
Ausnahmen bei Pendlern
Die meisten impfen zuerst ihre ständige Wohnbevölkerung. Ausnahmen machen manche Kantone für Pendler. St. Gallen bestätigt, dass es anfänglich viele Anfragen von Grenzgängern gab. Auch Auslandschweizer oder Ausländer mit Angehörigen in der Schweiz fragten wiederholt für Termine an. Das Impfzentrum Basel-Stadt erhielt bisher rund 80 Anfragen aus Deutschland.
Am grössten ist das Problem mit Impftouristen im Thurgau. Tausende Anfragen seien aus dem Ausland eingegangen, sogar aus den USA und Polen, klagte Regierungsrat Urs Martin (SVP) diese Woche im «St. Galler Tagblatt».
Anfang Jahr wurde im Thurgau Johann Rupert geimpft, ein südafrikanischer Milliardär und wohl bekanntester Impfdrängler der Eidgenossenschaft. Rupert flog eigens für den Piks ein, die Meldung ging um die Welt – und hat wohl Nachahmer animiert.
Regierungsrat Martin dagegen kritisiert das Buchungsportal des Bundes als «sehr missbrauchsanfällig». Wer dort lüge, komme damit durch. Martin ist mit seiner Kritik nicht allein: Zurzeit gebe es keinen Mechanismus, der sicherstellt, dass sich nur im Kanton Wohnhafte anmelden, teilt Solothurn auf Anfrage von SonntagsBlick mit. Und auch Baselland erklärt, das Portal des Bundes habe «gewisse Schwächen».
Wilde Gerüchte kursieren
Eine andere Impfdrängler-Methode, von der allenthalben gemunkelt wird, hat sich indessen als Märchen erwiesen: Wer kurz vor Feierabend ums Impfzentrum schleicht, in der Hoffnung, von einer angebrochenen Ampulle profitieren zu können, geht leer aus. Ohne Termin werde nicht geimpft, schreiben die Kantone unisono.
In vielen Kantonen, wie Bern, Appenzell Ausserrhoden, Solothurn, Glarus, Wallis, Graubünden und Zürich, brauchen besonders gefährdete Personen kein Attest. Im Impfzentrum führen die Ärzte allenfalls eine Befragung durch.
«Wir hatten schon Fälle, dass Impfdrängler von sich aus zugegeben haben, bei den Gesundheitsangaben in der Anmeldung gelogen zu haben», sagt Walter Kistler, Chefarzt im Spital Davos und verantwortlich für Corona-Impfungen. Derart klare Fälle von Missbrauch weise man ab, doch im Zweifel werde geimpft.
Undankbare Patienten
Kistler ist ehemaliger Mannschaftsarzt des Eishockeyclubs Davos, ruppige Umgangsformen also gewöhnt. Nun stellt er diese zunehmend bei seinen Patienten fest: «Unsere Mitarbeitenden müssen sich jeden Tag Unfreundlichkeiten gefallen lassen.»
Natalia Blarer Gnehm, Apothekerin in Zürich, berichtet Ähnliches. «Jeder ist sich selber am nächsten, und der Schweizer ist sich selber noch näher», sagt sie. Der Nation fehle es an Gemeinschaftssinn – und an einer gehörige Portion Demut: «Wir haben nie gelernt, aufeinander Rücksicht zu nehmen und zu verzichten.»
Ab Mai bieten in Zürich auch 160 Apotheken die Spritze gegen Corona an, wie der Kanton diese Woche bekannt gab. Im Zweifel impfe sie, sagt Blarer Gnehm – und vertraue darauf, dass die Leute korrekte Angaben machen.
Wie sagte doch Helmut Schmidt, der frühere deutsche Bundeskanzler? «In der Krise beweist sich der Charakter!»