Hier war mal das Städtchen Pioda
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Leerung Verzasca-Stausee:Hier war mal das Städtchen Pioda

Leerung des Verzasca-Stausees reisst alte Wunden auf
«Als sie die Häuser sprengten, weinten viele Einheimische»

Die Kraterlandschaft des ausgetrockneten Stausees lockt zurzeit Hunderte ins Verzascatal. Doch der Anblick sorgt nicht nur für Staunen. Viele ältere Talbewohner erinnern sich noch an die Flutung ihrer Häuser.
Publiziert: 24.01.2022 um 10:16 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2022 um 14:05 Uhr
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So sieht der Gemeindepräsident der Grossgemeinde Verzasca, Ivo Bordoli, seine Heimat zum ersten Mal. Erstmals seit 56 Jahren wird der Stausee von Vogorno fast vollständig entleert. Die einst grüne Schlucht gleicht nun einer Kraterlandschaft.
Foto: Ti-Press
Myrte Müller

Am späten Vormittag zieht die Sonne den Vorhang auf. Wie ein gigantischer Scheinwerfer leuchtet sie die neue Kulisse aus, die zurzeit Hunderte von Besuchern täglich ins Verzascatal lockt. Wer einen Parkplatz ergattert, schlendert auf die Staumauer, lässt Blick und Handykamera talaufwärts schweifen oder steigt gleich hinab in die neue Kraterlandschaft.

Seit Mitte Dezember entleert das Elektrizitätswerk von Gordola TI den Stausee von Contra TI. Die Verzasca SA will unter anderem die Betonwände der Expansionskammer sanieren, den Korrosionsschutz des Schachts erneuern und Drosselklappen am Ende der Druckrohrleitungen ersetzen. Dafür lässt sie die Verzasca umleiten und das 5,5 Kilometer lange Seebecken fast austrocknen.

Terrassen, Brücken, Bäume tauchen aus der Versenkung auf

Die Kontrolle an der Unterseite des Dammes ist längst überfällig. Seit der Inbetriebnahme vor 56 Jahren wurde die 220 Meter hohe Staumauer noch nie so gründlich saniert. Bis Anfang Februar 2022 soll der nötige Tiefstand erreicht und 17'000 Kubikmeter Schlick und Sediment ausgehoben sein. Erst dann wird der See langsam wieder gefüllt.

Woche um Woche senkt sich seither der Spiegel des Stausees, legt die Hänge und Schluchten frei. Einst steile Weinberge, Terrassen, alte Brücken, die ehemalige Kantonsstrasse tauchen aus der Versenkung auf. Sogar Bäume ragen wieder gen Himmel, eisgrau und wie zu Stein erstarrt.

«Mich macht die Kraterlandschaft traurig»

In der Menge von Schaulustigen steht auch Ivo Bordoli (67). Die begeisterte Neugier der anderen kann der Bürgermeister der Grossgemeinde Verzasca nicht teilen. «Mich macht der Anblick traurig», sagt er. Bordoli kommt aus Vogorno TI, also aus jenem Dorf, von dem das Stauseeprojekt die meisten Opfer einforderte. 64 der damals 105 Familien im Ort waren von der gezielten Überflutung betroffen.

«Unterhalb von Vogorno lag der Ortsteil Pioda», so Bordoli. Rund 30 Menschen hätten dort gelebt. Es habe eine Post, einen Laden, eine Gaststätte gegeben, sogar eine Tankstelle. «Sie rodeten die Ufer und sprengten die Häuser», erzählt er weiter, «bis nur noch Steinhaufen übrig waren. Dann wurde alles unter Wasser gesetzt.»

Die Menschen von Vogorno waren gegen die Staumauer

Auch Carla Rezzonico Berri (67) wird beim Betrachten der alten Fotos melancholisch. Die prächtigsten Häuser von Pioda, wie das Ristorante California oder der Gasthof mit dem Granitdach, schmückten damals Ansichtskarten. Ausser den vergilbten Schwarz-Weiss-Bildern ist vom überfluteten Pioda nichts übrig geblieben.

Die ehemalige Lehrerin und Journalistin wohnte in Nachbarschaft zum Ortsteil. Sie verbrachte ihre Kindheit am sogenannten Pozzo Bello des Flusses (auf Deutsch: schönes Becken). «Dort fischte mein Bruder Forellen, ich spielte mit den Kindern von Pioda», erzählt die Tessinerin. «Das Rauschen des Baches, die Natur, alles war sehr harmonisch.»

Doch dann kam die Idee von der Staumauer. Carla Rezzonico Berri: «Die Leute in Vogorno waren gegen das Projekt. Sie waren Bauern und man nahm ihnen Wiesen und Wald weg. Ausserdem hatten sie Angst vor der hohen Mauer. Sie fürchteten ein ähnliches Unglück wie in Vajont.» 1963 hatte das Aufstauen eines Sees im norditalienischen Friaul zu einem Bergrutsch und einer Flutwelle geführt, die 2000 Menschen in den Tod riss. «Doch Vogorno wurde durch die anderen Gemeinden im Tal überstimmt», erzählt die Tessinerin weiter. Sie erinnert sich: «Als sie die Häuser sprengten, weinten viele Einheimische bitterlich.»

Bauarbeiter Antonio Pesenti (88) wurde «Gimondi» genannt

Die Tessiner Staumauer hat auch Antonio Pesentis Leben umgekrempelt. «Im Amtsblatt von Bergamo waren damals Stellen für das Bauprojekt ausgeschrieben», erinnert sich der 88-Jährige. Der Italiener machte sich auf den Weg in die Schweiz, im Gepäck sein Velo. Er bekam den Job und zog in die Arbeiterbaracke in Gordemo TI.

«Damals führten die Menschen im Verzascatal ein einfaches Leben», sagt Antonio Pesenti, «nicht überall gab es Strom. Vielerorts wusch man die Wäsche noch im Bach und die Strassen waren schmal und meist nicht asphaltiert.» Viele Kilometer Arbeitsweg habe er zurückgelegt, alles auf dem Velo. «Ich kannte alle im Tal», sagt Antonio. Die Leute hätten ihn scherzhaft «Gimondi» genannt, nach dem legendären Radrennfahrer. Nach fünf Jahren Bauzeit stand die Staumauer.

Antonio Pesenti blieb im Tessin. Er lebt noch heute in Gordemo. Von der Baracke zog der Italiener in ein Eigenheim mit Blick auf den Lago Maggiore. So manchem mag die Staumauer die Heimat genommen haben, Antonio Pesenti hat sie eine neue geschenkt.

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