Die Gesichter der Delegation entspannen sich, die Ukrainer lächeln und staunen, als sie das Hauptgebäude des Paraplegiker-Zentrums in Nottwil LU betreten. «Alles, einfach alles stimmt hier», sagt Serhii Bolchuk (46), Leiter der Rehabilitationsklinik AGAPE in Lutsk im Nordwesten der Ukraine. Die Delegation wird begleitet von Marion Koch (59), der Mutter des wohl berühmtesten Tetraplegikers im deutschsprachigen Europa, Samuel Koch (35). Sie unterstützt das Team mit ihrer Hilfsorganisation beim Transport und bei der Unterbringung von querschnittgelähmten Flüchtlingen.
Marion Koch kennt sich in Nottwil sehr gut aus. Sie hat mit ihrem Sohn zwölf Monate hier verbracht, nachdem er als Wettkandidat bei «Wetten dass..?» 2010 im Live-Fernsehen schwer verunglückt war und seither vom Hals abwärts gelähmt ist. Sie erinnert sich genau: «Wir haben die schrecklichste Zeit erlebt, gleichzeitig aber haben wir die beste Therapie der Welt genossen», sagt sie zu Blick. Bald schon nach dem Unfall gründete sie mit ihrem Sohn die Hilfsorganisation «Samuel Koch und Freunde». Der Verein unterstützt Menschen, die andern Menschen in Notlagen helfen.
1000 Menschen zur Flucht verholfen
Serhii Bolchuk hat Koch bereits vor acht Jahren kennengelernt, seine Frau Nataliya (48) ist wie ihr Sohn Samuel Tetraplegikerin und vom Hals abwärts gelähmt. «Als ich erfuhr, dass Menschen mit Behinderung in der Ukraine Hilfe brauchen, haben wir gleich losgelegt», sagt Koch zu Blick. Mittlerweile haben sie elf Gruppen aus dem Kriegsgebiet evakuiert, sieben nach Deutschland, drei nach Holland und eine nach Küsnacht ZH in der Schweiz. Über 500 Menschen mit Behinderung samt Familie haben sie transportiert und im Ausland platziert, für weitere 500 haben sie die Flucht vermittelt und organisiert.
Im Paraplegiker-Zentrum nimmt die Delegation ein Patientenzimmer unter die Lupe, in dem die Verunfallten meistens mehrere Monate verbringen. Die Ukrainer vermessen das Bad, begutachten mit Bewunderung die Top-Ausrüstung und die Aussicht auf den Sempachersee. «Sogar das Schiebefenster kann man öffnen, auch wenn man seine Hände nicht mehr bewegen kann», sagt Serhii Bolchuk. Er schreibt alles auf, macht Fotos mit dem Handy. Nataliya Bolchuk, die wie ihr Mann in der Klinikleitung arbeitet, erkundigt sich, ob man ausrangiertes Material und Rollstühle günstig kaufen kann.
Ausbau nach dem Krieg
«Nach dem Krieg wollen wir unser Zentrum in Lutsk ausbauen. Wir haben in der Ukraine viel zu wenig Therapieplätze für Menschen mit schweren Rückenverletzungen», sagt Serhii Bolchuk. Nottwil sei das beste Vorbild. «Das gesamtheitliche Konzept, wie hier Menschen nach einem Unfall zurück ins Leben begleitet werden, ist einmalig.»
Doch bis die Pläne umgesetzt werden können, dauert es noch. Auch die Familie Bolchuk musste fliehen. «Gleich am Anfang des Krieges schlug in zehn Kilometer Distanz auf dem Militärflughafen eine Rakete ein. Die Druckwelle war unglaublich», sagt Bolchuk. Und weiter: «Wir evakuierten die Patienten in den Gemüsekeller. Wir haben keine Schutzräume. Die Situation war sehr schwierig.»
Trotzdem schauen die Ukrainer mit viel Hoffnung in die Zukunft. «Wir wollen in unser Land zurück und alles wieder aufbauen», sagt Serhii Bolchuk. Die Zeit im Ausland nutzen wir, um uns gut auf die Rückkehr vorzubereiten.»