Die Situation ist angespannt. Am Freitag meldete das Bundesamt für Gesundheit 1487 neue Ansteckungen mit dem Coronavirus. Zwar lässt sich die Situation nicht mit dem Frühjahr vergleichen, da deutlich mehr getestet wird und die Dunkelziffer dementsprechend tiefer ist. Lukas Engelberger (45), Basler Regierungsrat und Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren, bezeichnet die Lage gleichwohl als «instabil».
Man erwartet in den kommenden Wochen nicht nur einen Anstieg der Fallzahlen, auch die Hospitalisationen dürften zunehmen. Das BAG setzt des-halb in der Schutzkampagne neu auf die Warnfarbe Orange.
Disziplin lässt nach
Dennoch lässt die Disziplin bei Teilen der Bevölkerung nach. Martin Ackermann (49), Leiter der Corona-Taskforce des Bundes: «Die Leute nehmen die Pandemie nicht mehr gleich wahr wie noch im Frühling. Hygiene und Abstandhalten sind nicht mehr so präsent wie noch vor einigen Monaten. Es braucht ein Umdenken.»
Für Ackermann ist klar: «Wir müssen uns überlegen, was noch möglich ist. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ein privates Fest zu organisieren. Es braucht einen Ruck durch die Bevölkerung.»
Die Verhaltenspsychologin Silvie Kraemer (41) diagnostiziert eine «Müdigkeit in der Bevölkerung». «Die Vorgaben der Regierung während des Lockdowns waren sehr streng. Viele Leute haben sich an die Massnahmen gehalten, auch aufgrund des sozialen Drucks. Mittlerweile hat sich die Situation verändert. Die Leute sind müde, dadurch rücken auch die Massnahmen etwas in den Hintergrund.»
Wirksamkeit wird infrage gestellt
Zudem werde auch die Wirksamkeit der behördlichen Vorgaben infrage gestellt. Kraemer: «Haben die Menschen das Gefühl, die Massnahmen seien effektiv, halten sie sich auch daran. Sobald dieses Gefühl abhandenkommt, werden die Leute fahrlässiger.» So auch jetzt: «Sie haben das Gefühl, dass die Massnahmen nichts nützen. Die Fallzahlen steigen, obwohl sie sich seit Monaten an die Regeln halten.»
Auch Jacqueline Frossard (62) ist Psychologin. Sie nennt einen weiteren Grund dafür, dass sich die Menschen in der Deutschschweiz mit der Corona-Disziplin schwertun: «Bei uns ist Corona sehr abstrakt. Wir hatten keine Bilder von vielen Toten wie beispielsweise in Italien. Wir sind zum Glück sehr gut davongekommen, haben aber wenig Ahnung von den schlimmen Ausmassen der Pandemie. Das erschwert die Umsetzung der Schutzmassnahmen innerhalb der Bevölkerung zusätzlich.»
Die Debatte über die Schliessung der Ausgehlokale, so Frossard, weise auf einen Graben zwischen den Altersgruppen hin. «Die jungen Leute suchen nach ihren Lebensaufgaben und vernetzen sich, da spielt der Club eine wichtige Rolle. Es geht am Ziel vorbei, wenn man den Jungen vorwirft, nichts Besseres als den Ausgang im Kopf zu haben. Die ältere Generation muss anerkennen, dass die Jugendlichen auch Opfer bringen, wenn sie nicht in den Club können.»
Mehr Solidarität
Frossard plädiert dafür, dass die Generationen mehr Solidarität füreinander aufbringen.
Taskforce-Leiter Ackermann spricht davon, dass die Menschen jetzt Verzicht üben müssten. Jacqueline Frossard nennt dazu einen weiteren Aspekt. Es gebe Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen davon dispensieren lassen, eine Maske zu tragen. Die aber müssten nun ebenfalls Verzicht üben.
«Leute, die aus medizinischen Gründen keine Maske tragen dürfen, müssen sich einschränken, wenn es nicht um Grundbedürfnisse geht. Ein Konzertbesuch, ein Fussballspiel oder Shopping in Möbel- und Kleiderläden sind dann nicht möglich.» Andernfalls bestehe die Gefahr, dass sich Leute vermehrt medizinische Atteste ausstellen liessen, um die Corona-Regeln zu umgehen.
Der schwedische Möbelgigant Ikea etwa verweigert Personen ohne Maske den Zutritt – ärztliches Attest hin oder her.
Für das BAG sind neue Massnahmen derzeit keine Option. Ackermann appelliert an die Bevölkerung: «Jetzt muss ein Umdenken stattfinden.»