IS-Anhänger (15) greift Jude in Zürich mit Messer an – Radikalisierungsexperte ordnet ein
«Das ist die Spitze des Eisbergs»

Die Attacke auf einen jüdischen Mann schlägt hohe Wellen. Der Radikalisierungsexperte Thomas Kessler erklärt, wie ein 15-Jähriger Muslim zum Täter werden konnte.
Publiziert: 04.03.2024 um 17:54 Uhr
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Aktualisiert: 05.03.2024 um 10:23 Uhr
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Am Samstag stach ein 15-jähriger Muslim auf einen jüdischen Mann ein. Ein Onlineportal hat ein Bekennervideo des mutmasslichen Täters von Zürich veröffentlicht.
Foto: zvg
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Herr Kessler, der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr sprach an der Pressekonferenz von einem Terroranschlag. Wie kommt ein 15-jähriger Muslim mit tunesischen Wurzeln – fast noch ein Bub! – dazu, so etwas zu tun?
Thomas Kessler: Das scheint nur jung. In Frankreich gehen schon 11-Jährige auf Juden los. Die Indoktrinierung fängt früh an. Wenn die Eltern antisemitisch denken, hören die Kinder es schon am Familientisch. Je nach Milieu auch im Chindsgi oder in der Schule. In Frankreich, wo viele Leute aus dem Maghreb leben, ist das Problem grösser. Dort sind die Juden aus den öffentlichen Schulen weggemobbt. Das Problem kommt auch auf die Schweiz zu.

Woran machen Sie das fest?
Ich kenne Fälle aus Zürich, wo jüdische Eltern die Kinder aus der Schule genommen haben, weil sie von Muslimen gemobbt worden sind und die Schulleitung zu wenig unternommen hat.

Stellen Sie seit dem 7. Oktober diesbezüglich eine Veränderung fest?
Ein starke sogar. Die Radikalisierung und die Bereitschaft zu Gewalt haben unter Jugendlichen zugenommen. Das zeigt der Vorfall in Basel, wo sie die Israel-Fahne vor der Synagoge mehrmals gestohlen und angezündet haben. Das ist gravierend.

Thomas Kessler

Thomas Kessler (64) hat 2016 die Task-Force Radikalisierung der beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft aufgebaut. Davor war er in Basel Stadtentwickler, Migrations- und Drogendelegierter. Heute berät er Behörden im ganzen deutschsprachigen Raum – unter anderem in Radikalisierungsfragen.

Thomas Kessler (64) hat 2016 die Task-Force Radikalisierung der beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft aufgebaut. Davor war er in Basel Stadtentwickler, Migrations- und Drogendelegierter. Heute berät er Behörden im ganzen deutschsprachigen Raum – unter anderem in Radikalisierungsfragen.

Dass jemand mit dem Messer auf einen jüdischen Menschen einsticht, ist eine neue Dimension in der Schweiz. Überrascht Sie das?
Nein. 2001 wurde in Zürich ein Rabbi ermordet. Und seit dem Hamas-Überfall äussern sich die Antisemiten immer offener und aggressiver. Zudem tragen gewaltbereite junge Männer häufiger Messer mit sich. Das gilt erst recht für das radikalisierte Milieu, es orientiert sich am kriegerischen Heldenkult der IS-Propaganda. Das Messer soll die Position in der Gruppe stärken. Wer zusticht, sucht die Märtyrerrolle. Islamistische Gruppen gibt es auch bei uns. Doch das Problem wird stark unterschätzt.

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Wie geht eine solche Radikalisierung vor sich?
Häufig geschieht das über eine Gruppe mit gleichem Gedankengut, oder über das Internet. Auch der Täter von Zürich hat sich dort inszeniert. Für Jugendliche aus Kollektivgesellschaften ist die Position in der Gruppe besonders wichtig, auch virtuell. Sie wollen mit ihren Taten beeindrucken. Der junge tunesische Schweizer lachte, als man ihn abführte. Die spektakuläre Verhaftung durch ein filmreifes Polizeiaufgebot war Teil seines Plans. Das gibt einen Bedeutungszuwachs innerhalb der Gruppe.

Der Täter rief in einem Video zum Kampf gegen Juden auf. Welche Rolle spielt das Internet bei der Radikalisierung?
Eine zentrale. Der IS verbreitet Mordaufrufe gegen Andersgläubige in professioneller Aufmachung, mit der Bildsprache von Hollywood-Actionfilmen. Dazu stellt er brutale Videos von geraubten und versklavten «falschgläubigen» Jesidinnen, die vergewaltigt werden. Die Hamas tat das Gleiche von den überfallenen Israelinnen. Jugendliche in Europa liken und teilen die Videos in den sozialen Medien. Je mehr dies geschieht, umso mehr werden solche Inhalte angezeigt. Es ist ein Flächenbrand.

Was sind die Anzeichen einer Radikalisierung?
Man merkt das der antisemitischen Rhetorik des Kindes und dessen Gspändli an. Oder daran, dass der Jugendliche Propaganda konsumiert und plötzlich eine Waffe hat. Radikalisierung bedeutet zudem die Fokussierung auf ein Thema. In der Folge lässt oft die Schulleistung nach. Doch nicht allen fällt das auf. Die Untersuchung von Einzelfällen zeigt, dass der Kontakt zu den Eltern oft schlecht ist.

Wieso?
In der Pubertät nabelt sich ein Kind ab. Wenn beide Eltern arbeiten und das Kind ständig am Computer und Handy hängt und nicht erzählt, was es macht, verlieren sie den Kontakt. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern auch in der Pubertät noch am Leben ihrer Kinder teilhaben. Das gilt generell.

Fast jeder Kanton hat heute eine Radikalisierung-Fachstelle. Wie kommen Sie darauf, dass das Problem in der Schweiz unterschätzt wird?
Bei diesem Angriff jetzt redet man wieder darüber, ob es ein Einzelfall ist. Ist es nicht. Das ist die Spitze des Eisbergs. Die Propaganda wirkt global. In Europa sind islamistische Organisationen aktiv, die Konflikte in demokratischen Gesellschaften schüren. Sie haben viel Geld, haben teils staatliche Sponsoren im Rücken. Es gibt Überschneidungen mit kriminellen Organisationen. Diese Leute betreiben Geschäfte, kaufen Anwälte. Besonders in Frankreich und Deutschland.

Was muss man jetzt tun?
Fachstellen müssen ganz direkt in die Praxis, an die Brennpunkte, dort konkrete Präventionsarbeit leisten und sich stärker mit Polizei und Jugenddienst abstimmen. Sie sollen eng mit den Institutionen zusammenarbeiten und dafür sorgen, dass alle Kinder normal zur Schule gehen können.

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