Während der Bundesrat die Corona-Massnahmen diese Woche abmilderte und weitere Lockerungen in Aussicht stellte, ist in unseren Nachbarländern das Gegenteil der Fall.
Am Donnerstag hat Österreich entschieden, im Februar eine allgemeine Impfpflicht einzuführen. Diese gibt es in Italien schon seit zwei Wochen – für Arbeitnehmer über 50 Jahren. Bald muss zudem 100 Euro zahlen, wer selbstverschuldet nicht geimpft ist. Auch in Deutschland könnte die Impfpflicht kommen. Das hofft jedenfalls Gesundheitsminister Karl Lauterbach (58). Er machte am Mittwoch beim TV-Sender ZDF einmal mehr Werbung dafür. Lauterbach warnte vor den bisher niedrigen Spitalzahlen als «irrelevante Momentaufnahme» und vor einer «rekombinierten Virusvariante» im kommenden Herbst, die so ansteckend wie Omikron und so gefährlich wie Delta sein könnte. In der Schweiz aber wird die Impfpflicht nicht einmal im Ansatz diskutiert, stets macht der Bundesrat deutlich, sie sei kein Thema.
Sind wir zu liberal?
Die Impfpflicht ist nur ein Beispiel, die Umsetzung von 2G, Schulschliessungen oder Homeoffice sind andere. Fast immer sind die Schweizer Massnahmen lockerer, Entschärfungen früher in Aussicht. Obwohl die Schweiz derzeit genau wie die Nachbarländern täglich Rekordzahlen meldet.
Zudem klingen die hiesigen Experten zuversichtlicher als Lauterbach. Zwar warnen auch sie vor neuen Varianten, gehen aber eher davon aus, dass diese vielleicht ansteckender, aber kaum gefährlicher sein werden, weil immer mehr Menschen Antikörper haben.
Sind wir zu liberal? Oder die anderen Länder zu strikt? Marcel Tanner, Basler Epidemiologe und langjähriger Leiter des Schweizer Tropeninstituts, wägt ab: «Diese Art Pandemie hatten wir noch nie zuvor. Man kann nicht beispielsweise einfach die Spanische Grippe zum Vergleich heranziehen. Die Möglichkeiten sind vielseitiger, wir sind viel mobiler, reisen überall herum. Den richtigen Weg gibt es darum nicht.»
Soziale Aspekte werden berücksichtigt
Die Massnahmen des Bundesrats und die angekündigten Lockerungen seien weder fahrlässig noch wirtschaftsfreundlich. Sondern «gesellschaftsfreundlich». Die Schweiz habe vor über einem Jahr beschlossen, die Pandemie in einem gesamtheitlichen Public-Health-Kontext zu bekämpfen, sagt Tanner. Was bedeute, Gesundheit im Kontext der sozialen und wirtschaftlichen Faktoren zu sehen und daraus Massnahmen abzuleiten.
Darum habe man – nebst den Grundmassnahmen Hygiene und Abstandhalten – entschieden, Restaurants rigoros zu schliessen, aber zum Beispiel Schulen offen zu lassen. «Weil deren Schliessung gerade für die schwächeren Bevölkerungsgruppen ein riesiges Problem gewesen wäre. Die können nicht Heim-Unterricht und Homeoffice in ihren grossen Häusern machen, sondern leben vielleicht zu sechst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, mit zwei Computern», sagt Tanner.
Quarantäne-Verkürzung bedeute weniger Schaden
Genau das gleiche Prinzip werde in der Omikron-Welle angewandt. Man habe gesehen, dass die Spitäler nicht überlastet werden und dass die meisten Patienten mit schweren Verläufen an der Delta-Variante erkrankt seien und die Intensivplätze zu 90 Prozent mit Ungeimpften besetzt seien. Darum könne beispielsweise die Quarantäne verkürzt werden, weil mehr Schaden durch das Alleinsein und fehlende Arbeitskraft angerichtet werde, als Gesundheitsrisiken bestehen, wenn eine Person nach fünf statt zehn Tagen wieder aus dem Haus komme. Hätte man dagegen festgestellt, dass Omikron virulenter oder krankmachender sei, wären härtere Massnahmen angebracht gewesen.
Doch wirksam sind Massnahmen nur, wenn sie eingehalten werden. Tanner rechnet vor: Wenn beispielsweise ein Massnahmenbündel mit Impfung zu 90 Prozent schützt, aber nur sechs von zehn Leuten sich konsequent daran halten, ist die Wirkung dieses Massnahmenbündels auf Bevölkerungsebene nur 54 Prozent. Und je strenger die einzelnen Massnahmen sind, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass sich Leute dagegen auflehnen, sagt Tanner.
«Wohlstand führt zu Individualismus»
Dass sowas heute berücksichtigt werden müsse, sei zu Pandemiebeginn undenkbar gewesen. «2020 dachte man doch kaum, dass sich so viele Menschen weigern, die Massnahmen einzuhalten. Aber man hatte unterschätzt, wie wichtig gute Kommunikation ist und wie sehr Wohlstand gerade in Zentraleuropa zum Individualismus führt», sagt Tanner.
Für ihn ist klar: Ob die deutsche, italienische oder Schweizer Strategie die Beste ist, könne heute nicht gesagt werden. Aber: «Wenn wir die letzten zwei Jahre anschauen, finde ich den Weg, den der Bundesrat gewählt hat, grundsätzlich gut.»
Die Aussagen von Tanner werden auch durch Zahlen gestützt. All die unterschiedlichen Wege haben bisher zu ähnlichen Ergebnissen geführt: In der Schweiz sind seit Beginn der Pandemie 1442 Menschen pro Million Einwohnern an Corona gestorben. In Deutschland waren es 1388 und in Österreich 1543. Und auch bei den Corona-Patienten auf der Intensivstation sind die Fallzahlen bisher ähnlich gewesen – mit leichtem Vorteil für die Schweiz.