Wie das Kaninchen vor der Schlange starrt die Welt auf die sich auftürmende Omikron-Welle. Der Spitalkollaps sei nur eine Frage der Zeit, warnen manche Epidemiologen, andere wagen es schon gar nicht mehr, Prognosen zu stellen. Ganz anders der deutsche Epidemiologe Klaus Stöhr (62), früherer WHO- und Novartis-Wissenschaftler mit Schweizer Wohnsitz. Er hat eine klare Einschätzung zu Omikron – und fordert eine radikale Neuausrichtung der Pandemiepolitik.
Blick: Herr Stöhr, bedeutet Omikron das Ende der Pandemie?
Klaus Stöhr: In gewissem Sinne ist das tatsächlich so. Die Variante läutet den Übergang zur Endemie ein. Die Erkrankungen verlaufen milder, das Virus vermehrt sich nicht mehr so sehr in der Lunge, sondern im Nasen- und Rachenraum, und die Inkubationszeit verkürzt sich.
Was steckt dahinter?
Das Virus passt sich an den Menschen an, weil es evolutionär ein Nachteil ist, den Wirt schnell umzubringen. Das ist ein normaler Prozess, den wir von anderen Viren kennen, die vom Tier zum Menschen übergetreten sind. Seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden haben wir bereits vier endemische Coronaviren, die 15 bis 30 Prozent der Atemwegserkrankungen im Winter verursachen. Omikron könnte das fünfte werden.
Wir profitieren also davon, dass das Virus harmloser ist?
Nein, der Hauptgrund, warum wir uns der Endemie nähern, ist nicht das Virus, auch wenn es sich etwas anpasst: Der Hauptgrund ist der Mensch. Ein Grossteil der Menschen verfügt heute über Antikörper durch die Impfung oder Infektionen. Dadurch verlaufen Reinfektionen milder.
Hat sich der Mensch an das Virus angepasst?
Ich würde nicht von einer Anpassung des Menschen sprechen, das genetische Material hat sich nicht verändert. Aber Tatsache ist, dass viele Menschen heute immun sind. Das ist entscheidend für den Übergang zur Endemie. Das Virus zirkuliert weiter, aber die Menschen besitzen einen gewissen Immunschutz.
Andere Epidemiologen schätzen die Situation ganz anders ein als Sie. Sie sagen, dass es angesichts der steil steigenden Fallzahlen nur eine Frage der Zeit sei, bis das Gesundheitswesen erneut überlastet wird.
Diese Einschätzung passt nicht zur Datenlage. Die Zahlen aus Südafrika, England und den USA zeigen, dass Omikron zu ungefähr viermal mehr Fällen führt als Delta, aber dass gleichzeitig das Risiko einer Hospitalisation viermal tiefer ist.
Also hätten wir eine stabile Situation in den Spitälern?
Wir haben eine sich öffnende Schere zwischen stark steigenden Infektionen, die in der Regel mild oder asymptomatisch sind, und den Einlieferungen in die Intensivstation, die über die Zeit horizontal verläuft oder sogar abnimmt. Dazwischen verlaufen die Spitaleinlieferungen, die je nach Land mehr oder weniger ansteigen. Die Hospitalisierten benötigen heute aber weniger häufig als in früheren Wellen Intensivbetreuung und Sauerstoff.
In der Schweiz gehen auch die Spitaleinlieferungen zurück.
In Deutschland und Spanien ist das auch der Fall, in einigen anderen Ländern nehmen sie leicht bis deutlich zu. Ich betrachte die Lage aber konservativ. Entscheidend ist, dass die Patienten nicht lange im Spital bleiben müssen oder sogar auf der Intensivstation landen. Das ist eine Entwicklung, die in Richtung Pandemieende deutet. Hinzu kommt, dass positive Corona-Tests in den Spitälern häufig Zufallsbefunde sind. Die Leute kommen mit einem Beinbruch und sind beim Eingangstest dann positiv.
In Zürich und Genf machen solche Fälle rund die Hälfte der Hospitalisierungen aus, die in der Statistik als Corona-Fälle auftauchen.
Das verweist auf einen wichtigen Punkt: Das Virus zirkuliert zunehmend unentdeckt in der Bevölkerung, weil es in vielen Fällen keinen Schaden anrichtet. Und trotzdem zählen noch immer die Fälle, und man plant weitere Begrenzungen, obwohl diese zunehmend weniger notwendig werden.
Sollten wir aufhören, uns auf die Fallzahlen zu fixieren?
Das drängt sich auf. Die Inzidenz hat sich abgekoppelt von der Krankheitslast. Die Anzahl der Fälle geht durch die Decke, während die Krankheitslast horizontal verläuft. Wir müssen uns fragen: Wollen wir positive Laborbefunde bekämpfen oder Krankheitsfolgen minimieren?
Was bedeutet das für die Corona-Politik?
Wir befinden uns in einer Übergangszeit. Wir können nicht einfach alle Schutzmassnahmen aufgeben. Von den über 60-Jährigen ist ein beträchtlicher Prozentsatz nicht geimpft, viele von ihnen laufen auch bei einer Erkrankung mit Omikron Gefahr, auf der Intensivstation zu landen. Wir sollten aber eine schrittweise Deeskalation einleiten, gezielt Massnahmen zurücknehmen und dann schauen, wie sich die Situation entwickelt.
Was heisst das konkret?
Die Quarantänepflicht für Kontaktpersonen, die geimpft sind, können wir aufheben. In Deutschland werden aber immer noch ganze Schulklassen in Quarantäne geschickt, wenn nur ein Omikron-Fall auftaucht.
Das ist auch in der Schweiz der Fall.
Sie haben zumindest Unterschiede zwischen den Kantonen. Massentests in den Schulen sind aus meiner Perspektive gegenwärtig immer weniger verhältnismässig. Eine Untersuchung im Sommer in Hessen hat gezeigt, dass der Aufwand, um ein asymptomatisches Kind zu finden, 175’000 Euro beträgt. Dafür kann man in Deutschland eine kleine Wohnung kaufen. Verstehen Sie mich richtig: Es geht darum, die Menschen in Alters- und Pflegeheimen und andere Vulnerable sicher zu schützen. Es ist zum Beispiel völlig klar, dass man Kinder und Erwachsene zuerst testen sollte, wenn man den Grossvater mit Immunsupression besucht. Aber deshalb braucht es keine Massentests in Schulen.
Sie kritisieren die Fixierung auf die Fallzahlen. Sollten wir die Tests generell zurückfahren?
Mit jeder Massnahme sollte ein Problem gelöst werden. Welches Problem lösen anlasslose Massentests zum Beispiel in den Schulen? Oder bei der Einreise? Anders sehe ich das in der mobilen und stationären Altenpflege und in einigen Stationen in Spitälern.
Die Befürworter harter Einschränkungen verweisen auf die Gefahr von Spätfolgen, die selbst bei milden Krankheitsverläufen auftreten können.
Die Daten stützen die Horrorszenarien von 10 bis 30 Prozent Long-Covid-Fällen nicht. Tatsächlich sind die Spätfolgen bei Corona vergleichbar mit anderen Infektionserkrankungen wie etwa der Grippe. Auch dort gibt es Spätfolgen.
Kehrt das Virus im Herbst zurück?
Solange es die Menschheit gibt, wird es wohl nicht verschwinden. Auch im Sommer wird es auf niedrigem Niveau zirkulieren wie andere Erkältungsviren. Im Herbst werden die Fälle wieder ansteigen, denn Viren fühlen sich bei kühlen, feuchten und dunklen Bedingungen besonders wohl.
Müssen wir uns künftig jeden Herbst impfen lassen?
Endemisch bedeutet auch, dass die Kinder sich natürlich infizieren, danach Reinfektionen alle paar Jahre vorkommen, die aber in der Regel mild verlaufen. Wenn neue Varianten entstehen, gibt es einen heftigeren Winter. Aber für Menschen ab 60 und mit geschwächtem Immunsystem gehe ich davon aus, dass im nächsten Herbst eine Impfempfehlung angezeigt sein wird. Sollte sich das Virus aber weiter abschwächen, ist auch möglich, dass es danach keine Impfung mehr braucht. Gegen andere Coronaviren lassen wir uns ja auch nicht impfen. Das bleibt aber abzuwarten.
Der deutsche Virologe Klaus Stöhr (62) war Leiter des globalen Grippe-Programms bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), bevor er 2002 zur Impfstoffsparte von Novartis wechselte. Seit seinem Abgang beim Pharmariesen 2017 ist er als selbständiger Berater tätig. In der Corona-Pandemie trat Stöhr als Kritiker der deutschen Lockdown-Politik auf. Seinen Wohnsitz hat er in Weesen SG am Walensee.
Der deutsche Virologe Klaus Stöhr (62) war Leiter des globalen Grippe-Programms bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), bevor er 2002 zur Impfstoffsparte von Novartis wechselte. Seit seinem Abgang beim Pharmariesen 2017 ist er als selbständiger Berater tätig. In der Corona-Pandemie trat Stöhr als Kritiker der deutschen Lockdown-Politik auf. Seinen Wohnsitz hat er in Weesen SG am Walensee.