Alle müssen weg! Jetzt ist es so weit: Die Bewohner des Dorfs Brienz in der Gemeinde Albula GR müssen ihre Häuser verlassen. Die Gemeinde hat am Dienstag entschieden, das Dorf bis am Freitag zu evakuieren. Der Grund: Der Berg ist in Bewegung – und wie! Ein Felsvolumen von bis zu zwei Millionen Kubikmetern ist ins Rutschen geraten. Deswegen sei in den kommenden ein bis drei Wochen damit zu rechnen, dass es abbreche.
Von dieser aussergewöhnlichen Situation ist auch Ruth Tarnutzer betroffen: Die 59-Jährige wohnt in Brienz. Jetzt muss sie ihre Sachen packen. «Es tut weh, unsere Heimat zu verlassen», sagt sie zu Blick. In ihrer Wohnung sind die Umzugskartons langsam voll. «Ich finde, jetzt geht es wirklich schnell.». Am Vortag sei die Lage noch völlig anders gewesen. «Ich dachte, ich hätte noch genug Zeit.» Jetzt sei sie angespannt. Auch Tarnutzers Katze wirkt nervös. Der Vierbeiner flitzt nervös in der Wohnung herum, als Blick vorbeischaut.
Trotz des Schocks: Frustriert sei sie nicht, sagt Tarnutzer. «So ist die Natur halt.» Was allerdings schwierig ist: «Da ich bis am Freitag raus sein muss, weiss ich nicht, wo ich hingehen werde.» Dennoch bleibt die Bündnerin optimistisch. Die Gemeinde helfe bei der Wohnungssuche. «Gerade eben habe ich mit der Gemeinde wegen der Wohnung telefoniert.» Sie hofft aber auf eine baldige Rückkehr. «Brienz ist mein Zuhause. Ich fühle mich hier sehr wohl.»
Paar hatte Glück und fand andere Wohnung
Am Dienstag geht es in Brienz aber nicht um Rückkehr, sondern um Aufbruch. Die Hauptstrasse ist leergefegt. In den Seitenstrassen und vor den Häusern wieseln Leute herum, es stehen Autos mit offenen Kofferräumen am Strassenrand. Die Menschen aus Brienz scheinen schon jetzt ihre Habseligkeiten in ihre Fahrzeuge zu quetschen.
Während diverse Menschen nervös herumhuschen, sind Luiza (34) und Antonio (30) in einer komfortableren Lage: Das Paar muss sich zwar auch bereitmachen, das Zuhause zu verlassen. Aber: «Unsere Vermieterin konnte uns eine Wohnung auf der Lenzerheide zur Verfügung stellen. Das war ein riesiges Glück», sagt Luiza. Zuvor herrschte Unruhe: «Wir wussten nicht, was wir tun sollten.» Generell sei die Lage beunruhigend. «Man weiss nie, was passieren wird», sagt sie.
Doch das Paar hängt am Ort Brienz: «Wenn alles wieder sicher ist, hoffen wir, wieder zurückkehren zu können», sagt Antonio. Luiza stimmt ihm zu: «Es ist ein liebes, kleines Dorf. Ich liebe es hier.»
«Das Ziel: Alle heil aus Brienz herauszubekommen»
Auch Otto Vogler (90) gefällt das Leben im Dorf: Er wohnt seit rund 25 Jahren in Brienz. Obwohl auch er den Ort verlassen muss, zeigt er sich gelassen: «Wir wissen schon lange, dass hier nichts sicher ist.» Dass er nun so plötzlich sein Zuhause verlassen muss, überrascht ihn aber trotzdem. «Heute kommen meine Kinder, um mir zu helfen. Ich nehme das Nötigste mit.» Vor dem Felssturz hat er sich bislang nicht gefürchtet: «Angst habe ich nicht. Man weiss, dass immer wieder etwas abbröckelt. Das ist nun mal der Berg.»
Da das Volk beunruhigt, überrascht und auch teilweise ratlos ist, hat die Gemeinde am Dienstagabend zur Infoveranstaltung in der Schule in Tiefencastel geladen. Der Saal war gut gefüllt. Sogar Medien aus Deutschland waren anwesend. Auch drei Bündner Regierungsräte liessen sich blicken.
Natürlich auch vor Ort: Gemeindepräsident Daniel Albertin (52). Nach den neusten Erkenntnissen habe man schlichtweg nicht zögern können, Brienz zu evakuieren. «Uns ist bewusst, dass dieser Entscheid mit vielen Emotionen verbunden sein wird. Wir haben den Entscheid aber nicht leichtsinnig gefällt.» Die Evakuierung sei unumgänglich. Und für den Freitag gelte nur ein Ziel: «Alle heil aus Brienz herauszubekommen.»