Bereits eine halbe Stunde vor Beginn sind die ersten Reihen der Zürcher Stadtkirche voll besetzt. Als dann die Musik des ukrainischen Orchesters einsetzt, ist keine Bank mehr leer. Pfarrer Christoph Sigrist (60) hatte zum Jahrestag des russischen Einfalls in die Ukraine zum Gedenkanlass geladen. Es ist nicht die erste Veranstaltung dieser Art in Zwinglis früherer Wirkungsstätte. Diesmal aber hallen auch Begriffe wie Neutralität und Leopard 2 durchs Kirchenschiff.
Denn am Freitag redeten im Grossmünster auch Politik und Zivilgesellschaft mit. Corine Mauch (62, SP) fordert ein internationales Sondertribunal, das die politischen und militärischen Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Zürichs Stadtpräsidentin wandte sich auch gegen eine dogmatische Auslegung der Neutralität.
Und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, organisiert vom Verein StandUp4Democracy, sprachen über Kinderschicksale, Solidarität und Traumata, aber auch über Waffenlieferungen und Oligarchengelder.
«Wir verurteilen, wenn Waffen gesegnet werden»
Pfarrer Sigrist sprach Klartext: «Wir verurteilen, wenn Waffen gesegnet werden. Wir finden es abscheulich, wenn die Mütter und Väter der Soldaten, die im Krieg fallen, mit dem heiligen Ablass gedemütigt werden. Gott wird so in den Dreck gezogen.»
Sigrist sprach damit den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill I. (76) an, einen engen Verbündeten von Russlands Diktator Putin. Solange diese radikale theologische Propaganda beschworen werde, sei jeder Dialog mit solchen Kräften eine Illusion.
«Sie sollten einmal die Mails sehen, die ich nach solchen Anlässen bekomme», sagte Sigrist vor dem Gedenkanlass zu SonntagsBlick.
Aber aus der Geschichte haben wir gelernt: Eine Kirche, die sich nicht positioniert, positioniert sich auch.» Er habe den Auftrag, Haltung zu zeigen im Interesse der Menschen: «Das ist weder links noch rechts, sondern der politische Wirkungsgrad des Evangeliums.» Er leite dies aus der Bibel ab: «Bei Jesaja 58 heisst es, rechtes Fasten ist, Fesseln zu lösen, Gefangene zu befreien. Das kann ich nicht auf der Kanzel predigen und schweigen, wenn ukrainische Frauen im Donbass vergewaltigt werden.»
Menschliches Recht als Hauptauftrag
Der Vater der Schweizer Reformation, Huldrych Zwingli (1484–1531), war überzeugt: Die göttliche Gerechtigkeit muss sich im menschlichen Recht widerspiegeln. Und der Hauptauftrag für Christen sei ebendieses menschliche Recht. Sigrist orientiert sich an den Fussstapfen seines Vorgängers, der vor 500 Jahren am selben Ort predigte: «Das Grossmünster kann sich gar nicht anders verhalten, als solidarisch zu sein und zu helfen. Dieses Christliche ist auch als politische Aussage, zusammen mit der Politik, in die Gesellschaft zu tragen.»
Kommen Putin und Kirill also in die Hölle, wenn sie Gott, wie Sigrist beklagt, durch den Dreck ziehen? «Es ist nie das Geschäft des Menschen, ob jemand in die Hölle kommt oder in den Himmel. Angesichts der Hölle, die die Menschen in der Ukraine durchmachen müssen, ist meine einzige Hoffnung, dass sich Kirill und Putin vor den weltlichen Gerichten verantworten müssen.»
Wie Gott solch schweres Leid zulassen kann, fragt die Theologie seit Jahrtausenden. Sigrist hat keine endgültige Antwort. Aber: «Man kann dem lieben Gott nicht alles in die Schuhe schieben, was unsere Verantwortung ist.»
So endete die Ansprache des Pfarrers mit den Worten: «Lasst uns um Gottes Willen das Tapfere tun: helfen, hoffen, und handeln gegen das Vergessen, für das Erinnern, für den Frieden!» Eine Botschaft, die auf Resonanz stiess: Der Applaus – ungewöhnlich genug in einem Gotteshaus – war nach Sigrists Worten besonders intensiv.