Auf einen Blick
- Marie Riley verlor ihren Sohn Adam und gründete Good Mourning
- Trotz Trauer fand sie neuen Lebensmut und eine erfolgreiche Karriere
- Mit vierzig Jahren erwartet sie nun ihr fünftes Kind
Inzwischen hat sie die Kraft, über ihren Verlust zu sprechen. Ungeschönt. Ehrlich. Auch, wenn Marie Riley (40) weiss, dass ihre Geschichte andere schockiert und traurig macht. «Ich spreche den Tod meines Sohnes ganz offen an, aber die Leute sind nicht immer bereit, meine Worte zu hören», sagt die Freiburgerin zu Blick. Als sie 19 Jahre alt war, verlor sie ihr Baby, das erst wenige Monate alt war. «Es war brutal.»
Die Moderatorin der Sendung «Les Dicodeurs» (RTS) hat schon einige Mal darüber gesprochen. Aber nie in dieser Ausführlichkeit. Und dann auch zu einem besonderen Moment. Denn die 40-Jährige erwartet bald wieder ein Kind, ist im fünften Monat schwanger. Es ist ihr viertes Kind – aber eigentlich ihr fünftes. Denn ihr Erstgeborener, Adam, ist ein Sternenkind. Er verstarb, bevor sein Leben überhaupt richtig begann. Am 23. Juli 2024 wäre er zwanzig Jahre alt geworden.
«Ich denke jeden Tag an ihn»
«Alle unsere Verwandten haben die Angewohnheit, uns an diesem Datum zu kontaktieren», erklärt Riley. Und weiter: «In manchen Jahren bitten mich meine Kinder, ihm einen Geburtstagskuchen zu backen. Manchmal gehen wir auf den Friedhof, manchmal nicht. Wir schicken uns immer eine Nachricht, zusammen mit meinem Ex-Mann.».
Auch wenn Marie Riley offen über das Drama spricht, die Erinnerungen an die furchtbare Zeit, den schrecklichen Verlust überwältigen sie auch nach all den Jahren immer wieder. «Ich denke jeden Tag an ihn.» Aus ihrer Trauer heraus kam sie auf die Idee Good Mourning zu gründen. Das Unternehmen soll es Menschen ermöglichen, nach ihrem Tod den eigenen Angehörigen eine Erinnerung zu hinterlassen.
«Er musste direkt auf die Intensivstation gebracht werden»
Dann beginnt sie von der Zeit zu erzählen, als sie Adam verlor. Sie will offen über die Tragödie reden, die sie fast zerstört hätte, will damit trauernden Eltern helfen. Marie Riley war 19 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Es war eine Überraschung. Und es verlief alles andere als unbeschwert: Nach drei Monaten stellten die Ärzte fest, dass der Embryo eine Missbildung im Nabelbereich hatte: «Seine Eingeweide entwickelten sich ausserhalb des Körpers», erklärt die Freiburgerin. «Aber man versicherte mir, dass alles in Ordnung sei und eine Operation das Problem gleich nach der Geburt beheben könne.»
Das Baby, das etwas zu früh per Kaiserschnitt geboren wurde, erregte die Aufmerksamkeit einer Horde von Ärzten, Studentinnen und Experten, die ihren Fall untersuchen wollten: «Ich existierte nicht mehr, man beachtete mich überhaupt nicht, ich war wie enteignet», erinnert sich Marie. Als Adam auf der Welt war, durfte sie ihr Kind nicht mal im Arm halten. «Er musste direkt auf die Intensivstation gebracht werden. Alles, was ich hatte, war ein winziges Polaroidfoto von ihm, wie er auf einem Tisch lag. Es war schrecklich.»
«Er war da, ich konnte ihn endlich sehen»
Die Erinnerungen an die Zeit bewegen sie. Ihre Augen werden nass. Und dann fliessen Tränen über ihr Gesicht. Sie braucht eine Pause. Danach findet Marie Riley wieder Kraft und erzählt weiter. «In der ersten Nacht konnte ich es nicht mehr aushalten und verliess mein Zimmer, um zu meinem Baby zu gehen. Ich weiss noch, wie ich mich heimlich durch die Gänge des Berner Krankenhauses schlich. Und dann sah ich ihn da liegen. Er war klein, 2,5 Kilogramm schwer, mit riesigen Verbänden bedeckt. Seine Eingeweide hatten nicht vollständig in seinen Bauchraum zurückgeschoben werden können, da dieser zu klein war. Aber Adam war da, ich konnte ihn endlich sehen.»
Nachdem die Ärzte Marie Riley beruhigt hatten, erfuhr sie, dass die Eingeweide ihres Sohnes innerhalb weniger Tage wieder an Ort und Stelle gebracht werden konnten. Eine zweite Operation werde jedoch erforderlich sein, wenn er etwas gewachsen sei, um dasselbe mit seinen Bauchmuskeln zu tun. «Wir konnten ihn nach zwei Monaten im Spital nach Hause bringen, aber er brauchte immer noch Verbände, die ich regelmässig wechseln musste. Nicht ganz einfach für eine 19-Jährige.»
«Mein Baby war ganz weiss und spuckte Blut»
Adam war drei Monate alt, als er plötzlich begann, sich zu erbrechen. Er weigerte sich, zu essen. «Ich rannte ins Spital in Bern, aber niemand nahm mich ernst», klagt Marie Riley. «Ich bin ewig im Wartezimmer herumgestanden, bis ich anfing, zu schreien, dass ich Hilfe brauche.»
Der Oberarzt sei genervt gewesen und habe sie aufgefordert, gefälligst leise zu sein. Schliesslich kümmerten sich Ärzte um den Kleinen. Doch dann ging es Adam auf einmal noch schlechter. «Mein Baby war ganz weiss und spuckte Blut. Ich sehe ihn noch vor mir. Sie brachten ihn in den OP und wir setzten uns hilflos in das Restaurant, das direkt gegenüber dem Spital lag, und warteten. Doch kaum war unser Essen da, klingelte das Telefon. Ich legte den Sprint meines Lebens hin. Wir sind durch die Notaufnahme gelaufen, haben alle geschubst und Türen eingetreten.»
«Dann war es völlig still»
Als sie ausser Atem die Intensivstation erreichte, brach für Marie Riley die Welt zusammen. «Sie waren gerade dabei, ihn zu reanimieren. Ich habe ihnen befohlen, aufzuhören, ihn in Ruhe zu lassen, weil ich wusste, dass er schon weg war. Sie hörten nicht auf mich, sondern zwangen mich, mich in einen anderen Raum zurückzuziehen, von dem aus ich alles hören konnte, was geschah. Es war schrecklich brutal. Dann war es völlig still. Schliesslich kam der Arzt mit Tränen in den Augen zu uns.»
Was auf Adams Tod folgte, glich einem Alptraum. Die Beerdigung zu organisieren, einen Priester zu finden, der auch eine weltliche Zeremonie durchführen würde, die überfüllte Kirche. Und der Anblick des kleinen Sarges, den sie irgendwie gefunden hatte, den sie aber «so hässlich» fand. Als Marie Riley die Trauergemeinde verliess, sah sie einen der Ärzte, der Adam behandelt hatte: «Ich dachte, dass seine Anwesenheit bedeutete, dass irgendwo ein Fehler gemacht worden sein musste.»
«Wenn man mir zugehört hätte, wäre es vielleicht anders gekommen»
Marie Riley und ihr damaliger Partner wollten aber gar nicht wissen, woran Adam wirklich gestorben war. Erst zehn Jahren später schauten sie sich das Ergebnis der Autopsie an. «Ich hatte herausgefunden, dass die gesetzliche Frist für eine Klage gegen das Krankenhaus zehn Jahre betrug. Und ich habe mir geschworen, dass ich bis dahin nicht in die Akte schauen würde. Denn wenn ich anfangen würde, nach dem Schuldigen zu suchen, wäre ich erledigt und würde mein ganzes Leben damit verbringen. Und das würde mir meinen Sohn nicht zurückbringen.»
Sie hält ihr Wort. Am 23. Juli 2014 las Marie Riley die Akte, entdeckte, dass Adam an einer Sepsis gestorben war: «Ich dachte an all die chirurgischen Verbände, die ich wechseln musste. Wenn man mir zugehört hätte, wäre es vielleicht anders gekommen. Aber man hat mich nie beachtet, ich war für die Ärzte nicht existent.» Sie macht den Pflegeteams keine Vorwürfe. «Es sind schliesslich Menschen wie wir.»
«Ohne meine Familie hätte ich mich erschossen»
In den ersten Wochen nach der Beerdigung war der Schmerz für die junge Marie Riley, die in dieser Zeit auch noch ihren Vater verloren hatte, unerträglich. «Ich brach die Schule ab, wog 40 Kilogramm und meine Ehe zerbrach. Eines Abends rief ich meinen Psychiater an und sagte ihm, dass ich mich erhängen würde, wenn er mich nicht in eine Klinik einweisen würde. Ich wurde zwei Monate lang betreut.»
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:
- Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 www.143.ch
- Beratungstelefon von Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147 www.147.ch
- Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben
- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
- Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:
- Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 www.143.ch
- Beratungstelefon von Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147 www.147.ch
- Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben
- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
- Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
In dieser dunklen Zeit erfuhr sie die rückhaltlose Unterstützung ihrer Familie: «Die Medikamente haben mich davor bewahrt, mich umzubringen, aber meine Mutter hat mich wieder ins Leben zurückgeholt. Sie hat mir einmal gesagt, dass man den Tod mit in die Welt bringt, wenn man jemanden zur Welt bringt. Dieser Satz hat mich nach und nach wieder auf die Beine gebracht. Ich verstand, dass ich nichts dafür konnte, dass mein Kind nur mit einem frühen Todesurteil geboren worden war. Und dass ich mich entscheiden musste: mit ihm zu sterben oder weiterzuleben.»
Nach ihren beiden Selbstmordversuchen brauchte sie fast zwei Jahre, um sich wieder selbst zu finden. Ihre Schwestern halfen ihr dabei, gaben ihr Kraft in der schweren Zeit. Riley zu Blick: «Ohne meine Familie hätte ich mich erschossen.»
«Ich habe gebetet, dass es kein Junge wird»
Nach und nach fand Marie Riley zurück ins Leben. Sie beendete die Schule, studierte, fand neue Freunde und versöhnte sich mit ihrem damaligen Ehemann, dem Vater von Adam. Fünf Jahre nach der Tragödie wurde sie mit einem kleinen Mädchen schwanger. «Ich habe gebetet, dass es kein Junge wird, ich wollte spüren, dass es anders ist», erinnert sie sich. «Andererseits hatte ich bei den medizinischen Kontrollen keine Angst, ich wusste, dass alles gut gehen und sie gesund geboren werden würde.»
Zwei Jahre später bekam die Familie einen kleinen Jungen, dann einen zweiten. Marie trennte sich von ihrem zweiten Mann, aber sie blieben in gutem Kontakt. Heute hat sie mit ihrem jetzigen Partner «ein neues Leben angefangen» und erwartet ihr fünftes Kind mit grosser Freude. Sie lächelt: «Das Verrückte ist, dass das Universum alle meine Gebete erhört und beantwortet hat, obwohl mir niemand bei Adams Tod zuhörte. Ich bin vierzig Jahre alt, habe meine Traumkarriere und die coolsten Kinder, die ich mir hätte vorstellen können.»
«Das hat mich gerettet»
Das Trauma, Adam so früh verloren zu haben, macht ihr heute noch zu schaffen. «Ich habe es nie ganz überwunden, aber er ist da, er wird immer der sein, der mich zur Mutter gemacht hat. Und das ist die Botschaft, die ich allen trauernden Eltern mit auf den Weg geben möchte: Der Tod eines Babys bedeutet nicht, dass es nicht existiert hat. Man muss einen Weg finden, es wieder zum Leben zu erwecken, das hat mich gerettet.»
Einer dieser Wege war für sie die Musik: Die Band, der Marie angehört, hat Adam kürzlich ein Lied mit dem Titel «Mother» gewidmet. Am Mikrofon summt sie «The World Outside Awaits» (zu Deutsch: «Die Welt draussen wartet»).