Im April verschickte das Forschungsinstitut Agroscope tausend Unterhosen und Teebeutel an Freiwillige: Sie sollten sie in ihrem Garten vergraben, um anhand der Verrottung die Qualität der Böden zu messen. «Beweisstück Unterhose» ist eins von vielen Citizen-Science-Projekten, die jedes Jahr in der Schweiz starten.
Eine neue Studie der Universität Zürich beleuchtet das Interesse der Bevölkerung daran. Ergebnis: Zwar wären 48 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer bereit, mitzumachen. Doch nur acht Prozent wussten bereits, was Citizen Science bedeutet, nämlich Forschungsprojekte, an denen man sich ehrenamtlich beteiligen kann, ohne vom Fach zu sein.
Laut Tiina Stämpfli (47) von der Geschäftsstelle Citizen Science Schweiz ist die Idee nicht neu: «Die frühesten Beispiele dafür sind Vogelbeobachtungen.» Hintergrund ist laut Stämpfli, dass Ehrenamtliche lokales Wissen, eigene Forschungsideen und andere Sichtweisen mitbringen.
Erfahrungswissen von MS-Patienten
So auch beim Schweizer Multiple Sklerose Register. Seit 2016 dokumentiert es die nationale Verbreitung von MS und die Lebensqualität der Patienten – und zwar mithilfe der Betroffenen: Sie füllen halbjährlich Fragebögen über ihre Erfahrungen mit der Krankheit aus.
Dies sei gerade bei dieser Diagnose von Vorteil, sagt der Leiter des Registers, Viktor von Wyl (44). Nur so konnten die Forscher herausfinden, wie viele Menschen mit MS in der Schweiz leben. Oder «welche Symptome ihre Lebensqualität am stärksten beeinflussen».
Die so gewonnenen Erkenntnisse halfen, das Projekt in der Wissenschaft zu etablieren, wo man die Initiative Aussenstehender nach wie vor skeptisch sieht: «Wir mussten uns unseren Ruf erkämpfen. Es ist eine andere Art von Gesundheitsforschung, da gibt es Vorurteile.»
«Man sieht die Menschen hinter den Daten»
Etwa die Befürchtung, dass Citizen-Science-Projekte mit Mehraufwand verbunden seien. Von Wyl bestätigt: «Es braucht Zeit, die Ergebnisse zu kommunizieren und auf die Leute zuzugehen. Das mussten wir als Forschende erst lernen.» Auch sei es nicht leicht, die Projekte zu finanzieren, denn «es gibt nicht viele Förderer».
Die Vorteile überwiegen aber, so von Wyl: «Ich habe von meinem Team viel positive Rückmeldung bekommen punkto Bezug zu den Betroffenen. Man sieht die Menschen hinter den Daten. Viele meiner Kollegen sagen: Ich weiss jetzt, warum ich das mache!»
Auch den Bürgerwissenschaftlern nützt das Projekt. Irene Rapold (55) ist seit fünf Jahren dabei. Die Fragebogen zeigen ihr die Entwicklungen ihrer MS: «Das Register ist der einzige Ort, an dem ich meine Krankheit systematisch dokumentiere.» Und noch eine Motivation hat die 55-Jährige, auf diese Weise mitzumachen: «Wenn eine Person, die in einigen Jahren dieselbe Diagnose bekommt, einen Nutzen aus meinen Beiträgen ziehen kann, war es das wert.» Rapold wünscht sich, dass sich noch mehr Menschen an dem Register beteiligen, «einfach wegen der Vielfalt der Informationen, die da zusammenkäme».
Kartenprojekt für die Zentralbibliothek
Nicht nur mit Wissen oder einer anderen Sichtweise können Nichtwissenschaftler einem Forschungsprojekt helfen, sondern auch mit ihrer Arbeitskraft. Wie beim Projekt «Durch Raum und Zeit» der Zentralbibliothek Zürich: Im Juni rief sie Interessierte dazu auf, über 2000 digitalisierte Zürcher und Schweizer Karten aus der Zeit des 16. bis 19. Jahrhunderts mit modernen Karten zu vergleichen und so zu entzerren.
In nur eineinhalb Monaten bearbeiteten Freiwillige fast drei Viertel der Karten, erzählt Projektleiter Jost Schmid (47): «Dass es so schnell geht, haben wir nicht erwartet.» Schmid und seine Kollegen hätten all diese Punkte nie in so kurzer Zeit verorten können. Zwar müssen sie die Arbeit der Freiwilligen überprüfen und nachbearbeiten, aber «80 bis 90 Prozent davon ist sehr seriös». Das Forschungsteam hat die Karten so gewählt, dass sie leicht zu bestimmen sind, und ein Erklärvideo zur Anwendung des verwendeten Programms «Georeferencer» mitgeliefert. Zum Mitmachen sei kein Fachwissen nötig, so der Projektbeschrieb.
Sammeln von Wissen und Erfahrung
Das bestätigt Sigi Heggli (74), einer der aktivsten Teilnehmer des Projekts: «Die Karten kann man über die Website abrufen und bearbeiten, man muss also kein Programm installieren. Und die meisten Karten sind einfach.» Für den pensionierten Vermessungsingenieur kommt das Projekt einem Hobby gleich.
Den Namen Citizen Science hält Heggli für irreführend: «In dem Begriff steckt Wissenschaft – da erschrecken viele. Dabei setzt die Mitarbeit keine spezielle Ausbildung voraus. Es ist eher ein Sammeln von Wissen und Erfahrung.» So braucht man für das Kartenprojekt primär Ortskenntnisse.
Die Studie unterstützt Hegglis Einschätzung: 40 Prozent der Befragten nannten als Hinderungsgrund für eine Teilnahme, «dass ihnen das nötige Wissen fehlt». Laut Tiina Stämpfli will Citizen Science Schweiz die Befunde der Universität Zürich nutzen, um Bürgerinnen und Bürger noch besser zu erreichen und zu motivieren. Sie ist überzeugt: «Das Thema Citizen Science hat definitiv Wachstumspotenzial.»
Möchten Sie helfen, Wetterprognosen zu überprüfen, ein Mittel gegen Alzheimer zu finden oder das Risiko einer Erhöhung des Meeresspiegels an Küsten zu berechnen? Eine Übersicht über laufende Citizen- Science-Projekte finden Sie unter www.schweizforscht.ch
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