«Ich bin alleine»
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«Carlos»: Das Folter-Protokoll:«Ich bin alleine»

Fall «Carlos»: Das Folter-Protokoll
«Ich bin alleine»

Ein Gutachten schildert den Knast-Alltag von Brian K.: Einsamkeit, Isolation. Und manchmal Schlägereien mit den Wärtern. Die Experten sehen das als Folter.
Publiziert: 30.05.2021 um 01:18 Uhr
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Aktualisiert: 15.06.2021 um 03:05 Uhr
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Mehr als 22 Stunden täglich in der Zelle: Brian K. in der Strafanstalt Pöschwies.
Foto: Screenshot SRF
Reza Rafi

Er ist erst 25 Jahre alt, aber beschäftigt die Justiz schon länger als sein halbes Leben: Brian K., der einst unter dem Pseudonym Carlos wegen seines Sondersettings zum landesweit bekannten Straftäter wurde, steht in Zürich wieder vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm versuchte schwere Körperverletzung vor.

Der Fall nahm abrupt Fahrt auf, als sich zwei kampferprobte Anwälte zu Brians Pflichtverteidiger gesellten: der Menschenrechtsspezialist Philip Stolkin und die linke Ikone Bernard Rambert. Brians Vater hatte aus seinem Umfeld den Tipp bekommen, sich an Stolkin zu wenden. Jetzt steht ein massiver Vorwurf gegen die Zürcher Strafvollzugsbehörden im Raum: Folter.

Stolkin stützt sich auf zwei von der Uno anerkannte Mediziner im Auftrag der Organisation IRCT (International Rehabilitation Council for Torture Victims), Pierre Duterte und Önder Özkalipci. Letzterer besuchte den Angeklagten am 28. April fünf Stunden lang in der Strafanstalt Pöschwies. Das Gespräch fand durch eine dicke Glasscheibe statt.

Einsam

Das 20-seitige Gutachtender beiden Forensiker liegt SonntagsBlick vor. Es protokolliert den Gefängnisalltag eines jungen Mannes, der vor allem eines ist: einsam.

Bislang war er fast 600 Tage in Einzelhaft, mehr als 22 Stunden täglich in Isolation, und das in einer Phase von mindestens 15 Tagen am Stück. In den Uno-Regeln für die Behandlung von Häftlingen, den «Nelson Mandela Rules», entspricht dies der Isolationshaft, für die es rigide Vorgaben gibt. Gemäss Özkalipci leidet Brian an depressiven Stimmungen, Schlafstörungen, Beweglichkeitsproblemen, Angststörungen und anderen psychischen Symptomen. Dazu kommen Zahnweh, Hautausschlag und Atemprobleme in der Nase. Vernarbte Knöchel und Handgelenke, manchmal Herzrasen.

Statt eines richtigen Gesundheitschecks erhalte Brian ständig das Schmerzmittel Ibuprofen. Die Ärzte in der Pöschwies begutachten den Delinquenten nur durch die dicke Glasscheibe. Einmal sei ihm von Wärtern der Arm verdreht und er am Ellbogen verletzt worden. Worauf ihm ein Mediziner durch die kleine Öffnung in der Zellentür eine Kortisonspritze versetzte.

Widerrechtlich

Die Gutachter befürchten «schwere und bleibende Schäden» beim Inhaftierten und schreiben weiter: «Brians Einzelhaft widerspricht dem Istanbul-Protokoll und internationalem Recht.»

Ihr Fazit: Die Bedingungen könnten als Folter eingestuft werden, sie seien «grausam, inhuman, herabwürdigend» und laut Uno-Regeln «nur in Ausnahmesituationen und möglichst kurz» zugelassen.

Dazu zitieren die Autoren den Insassen: «Seit zwei Jahren und sechs Monaten bin ich in Isolation. Ich darf eine Stunde pro Tag an die frische Luft. Die Hände und Beine in Ketten. Ich treffe niemanden. Meine Toilette ist in der Zelle. Das Essen wird durch ein Loch in der Türe gereicht. Auch wenn ich im Hof bin, bin ich alleine. Es gibt niemanden, mit dem ich reden kann.»

Brian K. hat einen Koran und ein paar andere Bücher. «Die lese ich, um mich zu beruhigen.» Auch fernsehen darf er. Trainieren nicht. «Meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis, immer um dasselbe.»

Nur der Imam darf zu ihm

Seit einigen Monaten dürfe er wieder ohne Hand- und Fussfesseln in den Hof, aber auch dann alleine. Er habe mit niemandem persönlichen Kontakt. «Ausser mit den Wärtern, aber die sind aggressiv zu mir. Sie machen sich über mein lockiges Haar lustig. Manchmal kann ich mich wegen ihrer Hänseleien nicht zurückhalten und beginne mit ihnen zu kämpfen.» Der Einzige, den er regelmässig – einmal wöchentlich – zum Gespräch trifft, ist der Gefängnis-Imam. Brian berichtet zudem von kleinen Schikanen durch das Personal: «Ich bin Muslim, aber ich weiss, dass sie mir manchmal Schweinefleisch ins Essen mischen.» Bestelle er vegetarische Mahlzeiten, gebe es das normale Menü, man entferne lediglich das Fleisch.

Wenn sein Vater kommt, dürfe er nur gefesselt und durch die Glasscheibe mit ihm reden. «Umarmen darf ich ihn nicht.»

In einem Begleitbrief zeigen sich die Experten «schockiert» über Brians Haftumstände. Die Staatsanwaltschaft tut die Berichte als Parteigutachten ab. Es handle sich um «reine Behauptungen». Sie fordert siebeneinhalb Jahre Zuchthaus und die Verwahrung. Die Verteidiger einen Freispruch. Das Urteil wird im Juni erwartet.

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